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Mittwoch, 3. August 2022

Über den Sedisvakantismus

Robert V Newman  kommentiert bei OnePeterFive den Sedisvakantismus, analysiert ihn als gnostisches Phänomen auch in der aktuellen Situation der Kirche und widerlegt ihn mit Erkenntnissen der Psychologie zu Übertragung und Projektion. 
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"EIN PSYCHOLOGISCHER WEG ZUM VERSTÄNDNIS DES SEDIVACANTISMUS"

Sedisvantismus: vom lateinischen sedes Sitz, Bank, Thron und dem Verb vacare "leer sein". Als juristischer Terminus für eine zeitliche bischöfliche Vakanz ist- sede vacante- unangreifbar. Mein Widerspruch beginnt mit dem Zusatz des notorischen modernen Suffix  "ismus", mit all seinen Implikationen von Kontinuität und ideologischer Kohärenz. Menschliche Gesellschaften, von den primitivsten Stämmen bis zu den selbstbewusstesten postmodernen "Demokratien“, lassen niemals zu, daß die Sedes – der Sitz der Autorität, die Richterbank, der Thron der Macht – lange unbesetzt bleiben. Tiefe psychologische Impulse verlangen, daß die Leere gefüllt wird. Der Sedisvakantismus sieht einen zumindest im übertragenen Sinne leeren Papstthron vor. Meine Behauptung, vielleicht eine gewagte, ist, daß der Thron für die meisten Sedisvakantisten nicht wirklich leer ist; wenn es keinen gültigen Bischof gibt, um darauf zu sitzen, findet die Psyche einen Ersatz.

                                    Erster Höhepunkt: die Übertragung

In meinem vorangegangenen Artikel habe ich die Rolle der Übertragung zu Beginn und zur Intensivierung des Ultramontanismus des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht. Als angeborene psychologische Reaktion auf die Urangst ist die Übertragung normal und potenziell vorteilhaft. Wenn wir durch spirituelle, politische oder soziokulturelle Bedingungen in einen Zustand der Unordnung gebracht werden, verleitet uns die Übertragung dazu, eine Person oder eine personalisierte Institution zu vergöttern, zum Helden zu machen  oder ungebührlich zu heroisieren, die ein schnelles und einfaches Heilmittel gegen Existenzängste , Todesangst und Vernichtung bietet. Unsere Verwundbarkeit und wahrgenommene Machtlosigkeit lösen sich in der Aura dieses "gottähnlichen Menschen“ auf, auf den wir unsere Ängste und Zweifel übertragen, in der unbewussten Hoffnung, sie und die kosmischen Kräfte, die sie uns so rücksichtslos aufzuzwingen scheinen, dadurch verstehen, ihnen zu entkommen oder sie zu kontrollieren zu können.

Eine oberflächliche Analyse suggeriert einen natürlichen Antagonismus zwischen  Übertragung und Sedisvakantismus. Würden jene, die den Papst zum Idol machen, wirklich darauf bestehen wollen, daß der Mann, der aktuell als solcher identifiziert wird , ein Usurpator ist? Wenn wir jedoch genauer hinsehen, sehen wir, daß hier Übertragung am Werk ist. Der Sedisvakantismus - als populäre Bewegung- ist ein indirekter Ausdruck der modernen Fixierung auf das Papsttum. Gehen wir zurück und wägen die Flut von Polemiken, Verkündungen. Beschuldigungen und Verurteilungen, Argumenten und Gegenargumenten ab – wären die nicht seltsam überflüssig, wenn wir den Papst nicht mehr als die Achse sehen würden, um die sich alles Christentum dreht? Ist die erhabene Zentralität des Papstes nicht das eigentliche Prinzip seines luziferischen Sturzes von Ruhm und Vorherrschaft zu Schmach und Illegitimität? Trotz des offensichtlichen Paradoxons ist der ultramontane Katholizismus ein einzigartig förderliches Umfeld für das Wachstum des Sedisvacantismus, und dieses Umfeld wird durch psychologische Übertragung belebt.

          Der zweite Höhepunkt: die "Mana"- Persönlichkeit

Aus der Perspektive der Psyche ist die Dynamik des Sedisvakantismus eine gewalttätige. Der Übertragungsplan ist fehlgeschlagen; die Mauern der inneren Burg wurden durchbrochen; durch klaffende Löcher sehen wir die Bedrohung einer feindlichen Welt und die einhüllende Dunkelheit des Chaos. Ein sekundärer Abwehrmechanismus wird aktiviert. Der Übertragung ähnlich, ist der dennoch konzeptionell anders und leider gefährlicher.



Freud hat die Theorie der Übertragung entwickelt, nachdem er beobachtete, daß Patienten eine intensive und gestörte Bindung an- oder eine Faszination für ihren Psychoanalytiker entwickelten.  In meinem vorangegangenen Artikel habe ich die erweiterte Theorie der Übertragung in einem Erich Fromm-Zitat unterstrichen. Beide Formulierungen heben einen gemeinsamen Leitfaden - nämlich die allgemeine menschliche Tendenz autoritären Persönlichkeiten zuzuneigen und die beunruhigende Leichtigkeit, mit der bestimmte Individuen ihre Mitmenschen faszinieren und fesseln können. 
Das bringt uns zu Jung und seine Einsichten über die "Mana"-Persönlichkeit. Der Begriff "mana" beinhaltet anscheinend magische Fähigkeiten jener, die einen ungesunden Einfluss auf andere ausüben: ihr Charisma, ihre mysteriöse Fähigkeit Vertrauen und Loyalität gu wecken, ihre esoterische Weisheit.  Jung identifiziert die mana-Persönlichkeit mit dem Auftauchen der "alten weisen Mannes" im Bewußtsein, dem eines der Haupt-Archetypen im kollektiven Unterbewußtsein. Dieser Archetypus stellt eine ernste Gefahr für die Persönlichkeit dar, weil wenn er erweckt wird, ein Mann leicht dazu gelangt, zu glauben daß er wirklich das "mana" besitzt....so ein Mann kann sogar -indem er seine Wahrnehmung des Unterbewußten bis zu diesem Punkt erweitert hat, weiter gehen als andere; außerdem liegt eine unwiderstehlich Kraft in einem Archetypus, die die Menschen intuitiv spüren und der sie nicht widerstehen können. Was er sagt, fasziniert sie, auch wenn es sich im Nachhinein oft als unverständlich erweist. 

Der weise alte Mann ist eine vielschichtige Figur, die die Rolle des Königs, Helden, Heilers annehmen kann. In Situationen psychischer Verletzlichkeit kann er ein verfänglicher Ersatz werden. Unser Herr durchdringt das Unbewußte und ist in allem König, Held, Heiler und Retter, aber er wandelt nicht länger auf Erden und bekehrt Menschen; wir nähern uns Ihm im Glauben, den Sakramenten und Gebet.
Leider bevorzugt die menschliche Natur das Materielle, Unmittelbare und die emotionaale Energie einer mana-Persönlichkeit, besonders wenn der Glaube schwach ist, die Sakramente selten und das Gebet vernachlässigt wird: "die Hauptgefahr liegt darin, dem unheimlich faszinierenden Einfluss lebender Archetypen zu unterliegen." Ich wiederhole die Behauptung, die ich im ersten Abschnitt dieses Essays gemacht habe: wenn der Thron leer ist, findet die Seele jemanden, der die Leere ausfüllt. 

Ich möchte die Verbindung zwischen der Mana-Persönlichkeit und dem Sedisvakantismus als persönliches religiöses Phänomen nur ungern weiter ausführen. Eine solche Diskussion könnte als herabsetzende oder schändliche Behandlung sedisvakantistischer Katholiken ausgelegt werden, die ich als Brüder und Schwestern in Christus betrachte; Obwohl ich ihnen entschieden widerspreche, sympathisiere ich von Herzen mit ihnen. Stattdessen schließe ich diesen Abschnitt mit einem Zitat eines Lesers, der enge persönliche Verbindungen zur Sedisvakantistenbewegung hat. Im Geiste der Nächstenliebe teilte er Folgendes mit:

Es ist wichtig anzumerken, dass selbst wenn der Sedisvakantist es bestreitet, die Theorie des Sedisvakantismus … als solche nicht allzu überzeugend wäre, wenn sie nicht von einem charismatischen sedisvakantistischen Geistlichen oder Laien unterstützt und personifiziert würde, der sie selbstbewusst vorträgt.

           Der dritte Höhepunkt: die Verlockung der Gnosis

Ich mag es nicht, Kindern dabei zuzusehen, wie sie fröhlich Geheimnisse voreinander bewahren. Diese Art von Spiel kann unschuldig genug sein, nehme ich an. Aber die oft damit einhergehende Viktimisierung zeigt die schattenhafte und ungeordnete Natur des menschlichen Appetits auf geheimes Wissen.

Obwohl etymologisch neutral, ist Gnosis  im christlichen Lexikon ein gekennzeichnetes Wort. Die als Gnostizismus bekannte Ketzerei
  legt die Rettung der Seele lediglich in den Besitz eines quasi intuitiven Wissens um die Mysterien des Universums und von magischen Formeln, die auf dieses Wissen hinweisen. Gnostiker waren "Wissende“, und ihr Wissen machte sie sofort zu einer überlegenen Klasse von Wesen, deren gegenwärtiger und zukünftiger Status sich wesentlich von dem derjenigen unterschied, die, aus welchen Gründen auch immer, nichts wussten. 

Beachten Sie die aktiven psychologischen Merkmale in der Gnosis und ihre Kraft, uns zu verführen: übermenschliches Wissen, Kontakt mit dem Okkulten, Privileg, Auszeichnung, Überlegenheit. Die Gnosis appelliert an unedle, aber kraftvolle und anhaltende Aspekte der menschlichen Natur, und übermäßige Zustimmung zu ihren Reizen ist schädlich und potenziell verheerend für die Psyche. Jungs Arbeit legt nahe, daß 

"Gnostiker…unter einem übertriebenen oder aufgeblähten Ego leiden, das sich umgekehrt ganz mit dem wiederentdeckten Unbewussten identifiziert. Die Folge der Überhöhung ist zumindest ein übermäßiger Stolz auf die vermeintliche Einzigartigkeit des eigenen Unbewussten. Im Höchstfall ist die Folge eine regelrechte Psychose. "

Die Begegnung mit der Gnosis erinnert an den Archetypus des alten weisen Mannes; seine obskure und oft fadenscheinige Weisheit ist ein starkes Element in der sozialen Dynamik, die die Mana-Persönlichkeit umgibt.

An diesem Punkt muss ich offen sein und darauf hinweisen, daß der Sedisvakantismus eine zutiefst gnostische Bewegung ist, insofern ihre Lehre und Praxis einen kolossalen kirchlichen Zusammenbruch widerspiegeln, der weitgehend unbekannt und letzten Endes nicht erkennbar ist. Gnosis, sedisvakantistischer oder einer anderen Art, ist ein gerissener Feind, dessen psychologische Auswirkungen kumulativ oder zyklisch werden können. Für Katholiken, die sich im geistlichen Leben engagieren, könnten die Folgen in der Tat schwerwiegend sein.

                     Die Wahrheit kann nicht gnostisch sein

Ich werde jetzt mein einziges direktes Argument gegen den Sedisvakantismus vorbringen. Ich unternehme keinen Versuch, die umfangreiche Sammlung theologischer, philosophischer, historischer und juristischer Diskurse zu diesem Thema zu erweitern. Ich werde einfach vorschlagen, daß kirchliche Mängel von solch apokalyptischem Ausmaß – Jahrzehnte ohne Papst, eine ganze Hierarchie- via exstinctionis, unzählige Laien, die sich für Priester halten, eine Welt voller ungültiger Sakramente – nicht durch komplizierte, unbestimmte auf  Theologie, Philosophie, Geschichte oder Kirchenrecht. basierende Argumente nachgewiesen werden können.

Dieses Wissen muss weit verbreitet werden, offensichtlich von göttlicher Autorität durchdrungen und so überzeugend sein, daß es jeden Katholiken überzeugt, der aufrichtig für das Leben der Kirche wach ist. Andernfalls ist es Gnosis, und es gibt keinen Platz für Gnosis im mystischen Körper dessen, der sagte: Ich werde Dinge aussprechen, die seit der Schaffung   der Welt verborgen sind.

Die psychologische Geometrie der Sedisvakantistischen Erfahrung 

Das Dreieck ist die grundlegende stabile Struktur, die allgegenwärtige Quelle architektonischer Starrheit. Ich erkenne eine ähnliche Starrheit und Stabilität in der sedisvakantistischen Ideologie, teilweise aufgrund der oben erläuterten Dreiecks- Konfiguration: Übertragung, Mana-Persönlichkeit und Gnosis sind die drei miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Eckpunkte dieses verstärkten psychologischen Netzwerks.

Dennoch überrascht mich die Dauerhaftigkeit des Sedisvakantismus sowohl als Bewegung als auch als persönliches Glaubenssystem, weil er so viszeral und traumatisch zum Ausdruck bringt, was Psychologie und Medizin "Thanatos", den Todestrieb, nennen. Anhänger des Sedisvakantismus bekennen und verkünden das fortschreitende Organversagen ihrer eigenen Kirche; sie haben eine Vision von Altern und Untergang, von Zellauflösung – eine düstere Prognose für den mystischen Körper, dem sie selbst angehören. Die Kirche leidet schwer, wird von inneren und äußeren Feinden belagert und missbraucht und vergiftet, und doch ist sie glorreich und leidenschaftlich lebendig. In ihrem Übermaß an Leid ist sie schön, und liebe ich sie.

                                 Die Wurzel der Wahrheit

Befürworter des Sedisvakantismus bilden sich nicht nur Dinge ein, wenn sie einen Gräuel der Verwüstung an der heiligen Stätte erkennen. Ihre Behauptungen sind nicht unbegründet, sondern bauen auf ernsthaften Zweifeln am Zustand der Kirche auf, und diese Zweifel sind nicht unbegründet. Die missliche Lage der Sedisvakantisten ist vergleichbar mit der von Dante in  "Paradiso", Gesang VII:

   Aber ich sehe jetzt , daß euer Verständnis verwirrt ist,
   Gedanke über Gedanke in einem Knoten,
   von dem erlöst zu werden, 
  ihr mit großer Sehnsucht erwartet

Der Dichter erinnert uns daran, daß der Zweifel, auch wenn er bedrohlich ist, kein rein negatives Phänomen ist- ganz im Gegenteil.  

   Deshalb blühen unsere Zweifel wie ein Trieb aus der Wurzel der         Wahrheit;  treibt          dieses natürliche Bedürfnis uns zum Gipfel, von       Höhe zu Höhe. 

Leider begünstigt die psychologische Dynamik der Sedisvakantisten-Erfahrung keine konstruktive Lösung der ekklesiologischen Zweifel, denen sich alle nachkonziliaren Katholiken stellen müssen. Lasst uns in diesen dunklen Zeiten um Klarheit beten, und ich würde mich freuen, wenn dieser Essay auch nur einer Person mit sedisvacantistischer Überzeugung hilft, mit Dante zu sagen:

    Und obwohl der Zweifel, den ich fühlte, so deutlich war
    wie jede von Glas umhüllte farbige Oberfläche,  
    konnte er kaum erwarten, sich zu äußern, aber mit
    der Stoßkraft und dem Gewicht der Dringlichkeit,  erzwang er
    das "können solche Dinge sein?“ von meinen Lippen, woraufhin
    ich Lichter aufblitzen sah – ein riesiges Fest. "

Quelle: R.V.Newman, OnePeterFive

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