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Donnerstag, 29. Dezember 2022

Sorge um den Papa emeritus

 Anläßlich der beunruhigenden Nachrichten aus Mater Ecclesiae veröffentlicht Sandro Magister bei Settimo Cielo  einen Auszug aus der im November 2008 veröffentlichten Enzyklika Spe Salvi und Teile seines Briefes vom März 2007 an die Katholischen Bischöfe der Welt. 

  "BENEDIKT XVI: MEIN LEBEN, MEINE PRIORITÄTEN"

In diesen Stunden der Sorge um das irdische Leben von Papst emeritus Benedikt -sind hier zwei seiner selbstgeschriebenen und autobiographischen Texte, die für ihn charakteristisch sind. Der erste Text stammt aus dem Brief, den er am 10 März 2009 an die Bischöfe der Katholischen Kirche gesandt hat, in dem steht, welches die "Prioritäten" seines Pontifikates gewesen sind. Der zweite ist der Enzyklika Spe Salvi vom 30. November 2007 entnommen, die er zur Gänze eigenhändig verfaßt hat und die die Hoffnung offenbart, die ihn immer belebt hat-sogar in den schwierigsten Stunden der Kirche, er der sich selbst gerufen sah, zu regieren anstatt sich selbst einem Leben des Studiums zu widmen, gerade so wie es dem Theologen und Bischof Augustinus passierte, dem Kirchenlehrer, den er am meisten liebte.

Ratzinger


                                        “DIE ÜBERGEORDNETE PRIORITÄT”

Ich denke, daß ich die Prioritäten des Pontifikats in meinen Reden zu dessen Anfang deutlich gemacht habe. Das damals Gesagte bleibt unverändert meine Leitlinie. Die erste Priorität für den Petrusnachfolger hat der Herr im Abendmahlssaal unmißverständlich fixiert: „Du aber stärke deine Brüder" (Lk 22, 32). Petrus selber hat in seinem ersten Brief diese Priorität neu formuliert: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die in euch ist" (1 Petr 3, 15).

In unserer Zeit, in der der Glaube in weiten Teilen der Welt zu verlöschen droht wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, ist die allererste Priorität, Gott gegenwärtig zu machen in dieser Welt und den Menschen den Zugang zu Gott zu öffnen. Nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu dem Gott, der am Sinai gesprochen hat; zu dem Gott, dessen Gesicht wir in der Liebe bis zum Ende (Joh 13, 1) - im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus erkennen. Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, daß Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und daß mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen."

                                                     "EIN VÖLLIG NEUES LEBEN"

Die wahre, die große und durch alle Brüche hindurch tragende Hoffnung des Menschen kann nur Gott sein – der Gott, der uns "bis ans Ende", "bis zur Vollendung" (vgl. Joh 13, 1 und 19, 30) geliebt hat und liebt. Wer von der Liebe berührt wird, fängt an zu ahnen, was dies eigentlich wäre: "Leben". Er fängt an zu ahnen, was mit dem Hoffnungswort gemeint ist, das uns im Taufritus begegnete: Vom Glauben erwarte ich das "ewige Leben" – das wirkliche Leben, das ganz und unbedroht, in seiner ganzen Fülle einfach Leben ist. 
Jesus, der von sich gesagt hat, er sei gekommen, damit wir das Leben haben und es in Fülle, im Überfluß, haben (vgl. Joh 10, 10), hat uns auch gedeutet, was dies heißt – "Leben": "Das ist das ewige Leben: dich erkennen, den einzigen wahren Gott und den du gesandt hast, Jesus Christus" (Joh 17, 3). Leben im wahren Sinn hat man nicht in sich allein und nicht aus sich allein: Es ist eine Beziehung. Und das Leben in seiner Ganzheit ist Beziehung zu dem, der die Quelle des Lebens ist. Wenn wir mit dem in Beziehung sind, der nicht stirbt, der das Leben selber ist und die Liebe selber, dann sind wir im Leben. Dann "leben" wir.


Aber nun kommt die Frage: Sind wir da nicht doch wieder beim Heilsindividualismus angelangt? Bei der Hoffnung nur für mich, die dann eben keine wirkliche Hoffnung ist, weil sie die anderen vergißt und ausläßt? Nein. Die Beziehung zu Gott läuft über die Gemeinschaft mit Jesus – allein und aus eigenem reichen wir da nicht hin. Die Beziehung zu Jesus aber ist Beziehung zu dem, der sich für uns alle hingegeben hat (vgl. 1 Tim 2, 6). Das Mitsein mit Jesus Christus nimmt uns in sein "Für alle" hinein, macht es zu unserer Seinsweise. Es verpflichtet uns für die anderen, aber im Mitsein mit ihm wird es auch überhaupt erst möglich, wirklich für die anderen, fürs Ganze da zu sein. [...]

Die Liebe Gottes zeigt sich in der Verantwortung dem andern gegenüber. Denselben Zusammenhang von Gottesliebe und Verantwortung für die Menschen können wir auf beeindruckende Weise im Leben des heiligen Augustinus beobachten. Nach seiner Bekehrung zum christlichen Glauben wollte er mit gleichgesinnten Freunden ein Leben führen, das ganz dem Wort Gottes und den ewigen Dingen gewidmet sein sollte. Das von der großen griechischen Philosophie formulierte Ideal des beschaulichen Lebens wollte er mit christlichen Gehalten verwirklichen, den "besseren Teil" auf diese Weise wählen (vgl. Lk 10, 42). Aber es kam anders. 

Bei einem Besuch des Sonntagsgottesdienstes in der Hafenstadt Hippo wurde er vom Bischof aus der Menge herausgeholt und genötigt, sich für den Dienst als Priester in dieser Stadt weihen zu lassen. In der Rückschau auf diese Stunde schreibt er in seinen Bekenntnissen: "Erschreckt von meinen Sünden und von der Last meiner Armseligkeit hatte ich im Herzen die Flucht in die Einsamkeit bedacht. Aber du hast mich gehindert und mich bestärkt mit deinem Wort: ,Deshalb ist Christus für alle gestorben, damit auch die, die leben, nicht für sich selber leben, sondern für den, der für alle gestorben ist’ (2 Kor 5, 15)". Christus ist für alle gestorben. Für ihn leben heißt, an seinem "Sein für" sich beteiligen lassen.

Für Augustinus bedeutete dies ein völlig neues Leben. Er hat seinen Alltag einmal so beschrieben: "Unruhestifter zurechtweisen, Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, Gegner widerlegen, sich vor Nachstellern hüten, Ungebildete lehren, Träge wachrütteln, Händelsucher zurückhalten, Eingebildeten den rechten Platz anweisen, Verzagte ermutigen, Streitende besänftigen, Armen helfen, Unterdrückte befreien, Guten Anerkennung zeigen, Böse ertragen und [ach!] alle lieben". "Es ist das Evangelium, das mir Schrecken einjagt"  – jenen heilsamen Schrecken, der uns hindert, für uns allein zu leben und der uns nötigt, unsere gemeinsame Hoffnung weiterzugeben. 

Inmitten der ernsthaften Schwierigkeiten, mit denen das Römische Reich konfrontiert war – und die auch eine ernsthafte Bedrohung für das römische Afrika darstellten, das am Ende von Augustins Leben tatsächlich zerstört wurde –, war es sein Ziel: Hoffnung weiterzugeben, die Hoffnung, die ihm aus dem Glauben kamen und die ihn, ganz im Gegensatz zu seinem introvertierten Temperament, befähigten, sich entschieden und mit aller Kraft an der Aufgabe des Stadtaufbaus zu beteiligen. Im selben Kapitel der Bekenntnisse, in dem wir gerade den entscheidenden Grund für seinen Einsatz "für alle“ festgetsellt haben, sagt er, daß Christus "für uns einsteht, sonst müsste ich verzweifeln. Meine Schwächen sind zahlreich und gravierend, wirklich zahlreich und gravierend, aber noch reichlicher ist deine Medizin. Wir hätten vielleicht geglaubt, dein Wort sei weit entfernt von der Vereinigung mit dem Menschen, und so wären wir vielleicht an uns selbst verzweifelt, wenn dieses Wort nicht Fleisch geworden wäre und unter uns gewohnt hätte.“ Aus seiner Hoffnung heraus widmete sich Augustinus ganz dem einfachen Volk und seiner Stadt – er verzichtete auf seinen geistlichen Adel, predigte und handelte auf einfache Weise für einfache Menschen."

Quelle: S. Magister, Settimo Cielo, LEV

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