R.R. Reno befasst sich in einem Artikel für firstthings mit den Begriffen "postliberal" und "Autorität" in der aktuellen Theologie und ihren Einfluss auf die Auslegung der Bibel.
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"DIE AUTORITÄTEN BEFREIEN"
Der Begriff "postliberal" wird heutzutage viel herumgereicht. Meistens wird es in politischen Debatten verwendet. Aber meines Wissens wurde das Wort zuerst in einem theologischen Kontext geprägt. 1984 veröffentlichte George Lindbeck "The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age." Das Buch endet mit einem Aufruf zur Entwicklung einer "postliberalen Theologie“.
Liberale Theologie hat eine besondere Bedeutung. Ihre Ursprünge liegen in der deutschen protestantischen Theologie im frühen 19. Jahrhundert, als das universitäre Studium der Philosophie und Geschichte von der kirchlichen Autorität unabhängig wurde. Gelehrte beanspruchten die Freiheit (daher der Begriff "liberal“), christliche Behauptungen mit den Werkzeugen dieser neuen Wissenschaften zu beurteilen.
Die Geschichte des liberalen Protestantismus ist komplex, und im Katholizismus gab es parallele Entwicklungen. Aber ich kann einige allgemeine Aussagen machen.
Der Liberalismus im Christentum schürt unweigerlich Misstrauen gegenüber der Tradition. Bekanntlich äußerten Gelehrte im 19. Jahrhundert Zweifel an der Bibel. Sie galt nicht nur als unglaubwürdiger Zeuge historischer Ereignisse, sondern wurde auch zunehmend auseinandergenommen, weil die Gelehrten die vielen Schichten der Urheberschaft untersuchten. Eine ähnliche Skepsis galt der Kirchengeschichte (eine kritische Haltung, die bereits während der Reformation am Werk war).
Als die Autorität der Bibel und der Tradition schwand, wandte sich die liberale Theologie nach innen. Unsere Gefühle und Erfahrungen wurden zu Schiedsrichtern der wahren Lehre. Karl Barths Bonmot über Friedrich Schleiermacher, den Patriarchen der liberalen protestantischen Theologie, fasste den Geist des Liberalismus in der Theologie zusammen: "Er sprach über Gott, indem er mit lauter Stimme über den Menschen sprach.“
Meine Lehrer in Yale, zu denen auch George Lindbeck gehörte, waren nicht antimodern und schon gar keine Fundamentalisten. Aber sie erkannten, daß der Liberalismus in der Theologie eine desintegrierende Wirkung hat. Der rote Faden der Bibel ging verloren, als sie atomisiert und in Daten für historische Spekulationen verwandelt wurde. Jeder wurde sein eigener Richter über die theologische Wahrheit, was angesichts der Macht der säkularen Kultur, unsere Sensibilität zu formen, bedeutet, dass die wankelmütigen Moden dieser Welt die Lehre diktieren, nicht das Wort Gottes.
First Things war schon immer gegen den Liberalismus in der Theologie. Unser Gründer, Richard John Neuhaus, erkannte, daß Protestanten, Katholiken und Juden zwangsläufig in der Theologie unterschiedlich sein würden, oft tiefgreifend. Aber er schwankte nie in seiner Überzeugung, daß wir in unserem Glauben illiberal sein müssen, das heißt, wir finden die Fülle des Lebens, indem wir auf die Autorität unserer Traditionen hören, anstatt uns zu distanzieren und uns das "Recht“ vorzubehalten, unseren Glauben vor andere, neuere und modernere Autoritäten zu stellen.
Darüber hinaus haben die Autoren in unseren frühesten Ausgaben vor der Gefahr eines ungezügelten Liberalismus im öffentlichen Leben gewarnt. Amerikas oft wildes Genie für Freiheit muss durch den Gehorsam des Glaubens gegenüber Gottes Willen diszipliniert werden. Ähnliches kann über unser kulturelles Engagement gesagt werden. Der Geist von T. S. Eliots Essay "Tradition und das individuelle Talent“ herrscht über unsere Seiten: Tiefe Kreativität entsteht, wenn man sich unter die Autorität dessen stellt, was vorher war. In einer liberalen Ära – unserer Ära – ist es nicht die Freiheit, die Genie nährt, sondern Gehorsam, der Geist dankbarer Aufnahme.
Im eigentlichen Sinne ist eine liberale Seele aufnahmebereit und kann ihr Urteil zurückstellen, um anderen zuzuhören. Sie bleibt ruhig, wenn sie mit Fehlern konfrontiert wird. Ich wünsche mir, daß First Things in diesem wahren Sinne liberal ist. Aber wie ich von meinen theologischen Mentoren gelernt habe, muss man fest in der Wahrheit verankert sein, wenn man liberal sein will. Paradoxerweise hat ungezügelter Liberalismus den Weg für die heutigen illiberalen Denunziationen, Aufhebungen und schikanösen politischen Orthodoxien geebnet. Man muss postliberal sein – man muss ein Förderer der alten und vertrauenswürdigen Autoritäten sein –, um die nötige Seelenstärke zu erlangen, um Argumente abzuwägen, ohne Leidenschaften zu verzerren, und das Böse ohne Groll zu bekämpfen.
Lasst uns gemeinsam unter befreienden Autoritäten verweilen – den Ordnungen der Schöpfung, den Traditionen des Westens, der Macht der Schönheit und vor allem dem Wort Gottes. Unsere ungeordneten und zerfallenden Gesellschaften brauchen unser Zeugnis."
Quelle: R. R. Reno, firstthings
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