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Dienstag, 4. Juni 2024

Religion in Russland: vom Märchen über den guten Lenin bis heute...

Nico Spuntoni interviewt für La Nuova Bussola Quotidiana Professor Giovanni Codevilla zur Lage und Entwicklung der Religion in Russland in den letzten 100  Jahren.
Hier geht s zum Original:  klicken

"VON LENIN ZU PUTIN, DIE BEZIEHUNG RUSSISCHER FÜHRER ZUR RELIGION"

Von der Verfolgung der Christen durch Lenini, Stalin und Cruschtschow über die Öffnung zur Religionsfreiheit unter Gorbatschow bis heute zur Idee von Russkij mir, die Putin und der trüben Figur Kyrill so lieb ist. 
Lenins blutiges Gesicht, Stalins Opportunismus, Cruschtschows Radikalisierung, Gorbatschows Entspannung, Putins Identifikation. Mehr als ein Jahrhundert der Beziehung zwischen Thron und Altar in der russischen Geschichte auf den Seiten von "Von Lenin zu Putin, Politik und Religion"(Jaca Buch 2024), das jüngste Werk des führenden italienischen Experten für dieses Thema, Professor Giovanni Codevilla. Den Wert des Werks steigert noch das Vorwort eines anderen grossen Gelehrten für dieses Thema, Don Stefano Caprio. Ein Essay, der in den Bibliotheken der Freunde des zeitgenössischen Russlands nicht fehlen sollte und der auch dazu dient, den Blick auf die aktuellen, vom Ukraine-Krieg beherrschten Ereignisse zu kalibrieren. Um die wesentlichen Passagen der im Buch rekonstruierten 107 Jahre zu analysieren, hat La Bussola den Autor interviewt.

Professor Codevilla, was ist die leninistische Sicht auf Religion und wie wurde sie durch die an die Macht gekommenen Bolschewiken umgesetzt?
Lenins Sicht der Religion kommt in einem Brief zum Ausdruck, den er 1913 an Maxim Gorki schrieb und den ich in diesem Essay zitiere. Darin schreibt der Gründer der UdSSR: „Jede religiöse Idee, jeder gute Gott ist Nekrophilie. Jede religiöse Idee, jede Idee über einen guten Gott, selbst jeder Flirt mit dem guten Gott ist eine unsägliche Verworfenheit. Es ist die gefährlichste Verworfenheit, die abstoßendste ‚Infektion‘.“ Lenins Hass auf die Religion begann in seinen Teenagerjahren: Sein Lehrer war Priester und forderte seinen Vater auf, ihn zu bestrafen. Er reagierte, indem er das Kruzifix zu Boden warf und darauf trat. Die Gewalt gegen die Kirche begann in den frühen Tagen der Revolution, als Priester ohne Gerichtsverfahren getötet wurden. Einigen Studien zufolge wurden in den Jahren 1917-1919 20.000 Priester und Laien unterdrückt, von denen 15.000 erschossen wurden.

Zahlen, die das Märchen vom guten Lenin...
Der Rote Terror begann nicht erst in den 1930er Jahren, sondern bereits mit Lenin. Vor allem nach dem Attentat auf ihn am 30. August 1918 und der darauf folgenden Veröffentlichung des Dekrets über den Roten Terror am 5. September. Gegen die Kirche wurde ein progressiver Terror angewandt: Zunächst ging es darum, die Mitglieder des Klerus zu eliminieren, dann darum, die Symbole der Religion zu entweihen. Ein Beispiel dafür ist der Prawda-Artikel vom 16. April 1919 mit dem Titel „Die ausgestopften Heiligen“, in dem die These der gefälschten Reliquien aufgestellt wurde, dass es sich dabei um Nachahmungen der Körper von Heiligen handele, die ausschließlich dazu dienten, Geld von den Gläubigen einzunehmen.

Was steckt hinter dem Versuch, auf die Volksfrömmigkeit zu zielen?
1922, anlässlich der ersten Massenhungersnot, sagte Lenin es offen: Man müsse das Kircheneigentum enteignen, um Tausende Rubel aufzubringen und den Hunger zu bekämpfen. In dem Buch wird ein Brief veröffentlicht, in dem Lenin schrieb: "Gerade jetzt, und nur jetzt, wo in Hungergebieten Menschenfleisch verzehrt wird und Hunderte, wenn nicht Tausende von Leichen auf den Straßen liegen (können und müssen wir) die Beschlagnahme der Kirchengüter mit der wütendsten und rücksichtslosesten Energie durchführen, ohne zu zögern, jeden Widerstand zu unterdrücken. Gerade jetzt, und nur jetzt, wird die überwältigende Mehrheit der Bauern auf unserer Seite sein.“

Gehen wir weiter zu Stalin: wie hat sich seine Religionspolitik vor, während und nach der Nazi-Invasion geändert ?Es muss gesagt werden, dass in der Zwischenzeit die Verfolgungen von der Tscheka durchgeführt wurden, bei der eine ad hoc eingerichtete Antireligions-Abteilung eingerichtet wurde. Mit dem unerwarteten deutschen Angriff auf die Ukraine änderte sich etwas. Es stimmt, dass es in diesem Land anfangs eine positive Reaktion der Bevölkerung gab, die den Nazis nicht feindlich gesinnt war, aber nicht, wie einige heute noch behaupten, weil die Ukrainer pro-nazistisch waren, sondern weil ein Teil der Bevölkerung dachte, es könne nichts Schlimmeres als den Kommunismus geben. Erst später erkannten sie ihren Fehler. Die Nazis öffneten die Kirchen wieder, um die Sympathie der besetzten Bevölkerung zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt verstand Stalin, dass es notwendig war, an den patriotischen Geist des sowjetischen Volkes zu appellieren, und am 3. Juli 1941 hielt er die berühmte Rede an „Brüder und Schwestern“, wobei er eine unpolitische Terminologie verwendete. Die orthodoxe Kirche reagierte positiv und ermutigte die Bevölkerung, sich im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu vereinen. Stalin gab der Kirche Freiheit, indem er die Saison der sogenannten „religiösen NEP“ eröffnete, die im Wesentlichen bis 1947 andauerte. Achtung: In diesen Jahren kam es keinen Mangel a Verhaftungen und Erschießungen, aber ihre Zahl nahm ab.

Bei der Beziehung zur Orthodoxen Kirche ging es rauf und runter, während die zur Griechisch Orthodoxen Kirche immer durch rücksichtslose Härte gekennzeichnet war. Waren die Gläubigen des Griechisch-Katholischen Glaubens die Hauptopfer der religiösen Verfolgung?
Daran besteht kein Zweifel. Das war Teil von Stalins antikatholischer Politik. In dem Buch spreche ich über das sowjetische Projekt, einen Moskauer Vatikan zu schaffen, das scheiterte, weil es nicht die Zustimmung der anderen orthodoxen Kirchen hatte. Stalin wollte der katholischen Kirche einen Todesstoß versetzen, weil er sie für das mächtigste Zentrum des Antikommunismus hielt. In diesem Zusammenhang fand 1946 in Lviv ein Pseudokonzil statt, das absolut ungültig war, weil es behauptete, eine griechisch-katholische Synode zu sein, auch wenn es nur von Vertretern der orthodoxen Kirche geleitet wurde und somit gegen jede kanonische Norm verstieß. Unter diesen Umständen wurde die griechisch-katholische Kirche abgeschafft, alle Bischöfe wurden verhaftet und starben dann in den Konzentrationslagern, wobei nur ein einziger nach 17 Jahren Gefangenschaft überlebte. Die griechisch-katholische Kirche wurde auch in Rumänien und der Slowakei aufgelöst.

Im Gegensatz zum allgemeinen Glauben bedeutete Stalins Tod nicht den Beginn eiber Liberalisierung in Religionsfragen. Stimmt das nicht?
Es wurde schlimmer. Mit Cruschtschow nahm die atheistische Propaganda zu.

Kommen wir zur jüngeren Zeit: während der Perestroika schien es sogar für die Katholische Kirche einen Hauch von Handlungsfreiheit zu geben. Was ging schief?
Bei ihrem ersten Treffen versicherte Michail Gorbatschow Johannes Paul II. Offenheit im religiösen Bereich. Kurz darauf wurde das Gesetz zur Religionsfreiheit von 1990 erlassen, das das in den vorangegangenen Jahren des Kommunismus bekannte Konzept der Gewissensfreiheit änderte. War es bis dahin als Recht/Pflicht verstanden worden, sein Gewissen von der Religion zu befreien, so wurde die Gewissensfreiheit mit diesem Gesetz wieder zur Freiheit, zu glauben oder nicht. Diese Phase der Liberalisierung provozierte die Reaktion der orthodoxen Kirche, die das Prinzip der Religionsfreiheit, wie wir es im Westen verstehen, nicht akzeptiert und sich für eine Einschränkung einsetzt. Selbst nach dem Zusammenbruch der UdSSR verabschiedete die Duma 1997 trotz Boris Jelzins Wunsch, die Religionsfreiheit im Mittelpunkt zu halten, ein Bundesgesetz zur Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit, das nur die vier traditionellen Religionen als offizielle Religionen anerkannte: Orthodoxie, Judentum, Islam und Buddhismus.

Wie sehr ist das Gewicht der Russisch Orthodoxen Kirche mit der Ankunft Vladimir Putins im Kreml angewachsen?
Putins Innen- und Außenpolitik basiert auf der Idee der Russkij Mir (Russische Welt), die wiederum in der Vorstellung von Moskau als dem Dritten Rom wurzelt. Zu dieser messianischen Vorstellung von Russland gehört die These, dass die russische Welt nicht nur Russen umfasst, sondern auch alle, die Russisch sprechen und sich für die russische Kultur interessieren. Das wird im jüngsten Dokument des XXV. Weltrats des russischen Volkes festgestellt. In Putins Politik steckt diese Idee von Moskau als Zentrum des Kampfes zwischen Gut und Böse. Er präsentiert sich als Träger christlicher Werte, aber Russland ist das Land mit einer der höchsten Abtreibungszahlen der Welt.

In Ihrem Buch gehen sie so weit, zu behaupten, das Patriarch Kyrill kirchliche Karriere vom KGB, dem er angehörte, begünstigt wurde. Welche Beweise gibt es? 
Schweizer Wissenschaftler haben seine Mitgliedschaft im KGB dokumentiert. Und dabei kommt Kirill aus einer Priesterfamilie, in der sein Großvater und sein Vater in Konzentrationslagern saßen, weil sie sich der Bewegung der Innovatoren widersetzt hatten, die von den Bolschewisten angeheuert worden waren, um die patriarchalische Kirche von innen heraus zu zerstören. Den Innovatoren gelang es, einzudringen, um eine vollständige Unterwerfung der Kirche unter das Regime zu versuchen. Jetzt ist die Situation umgekehrt: Es war nicht Putin, der die Russkij Mir-Ideologie erfand, sondern es war Kyrill, der auch die "theologischen“ Argumente für die Invasion der Ukraine lieferte. Diejenigen, die sich dem widersetzen, sind aus ihrer Sicht Gegner der Orthodoxie.

Welche Auswirkung hatte der Ukraine-Krieg auf die Russisch-Orthodoxe Welt?
Ich war sprachlos angesichts der Tausenden von Menschen, die mit unverhüllten Gesichtern Blumen zu Nawalnys Beerdigung brachten. In der orthodoxen Welt herrscht jedoch Angst. Es gibt eine ständige Gehirnwäsche. Offiziellen Statistiken zufolge ist die Mehrheit der Bevölkerung für das, was sie als "besondere Militäroperation“ bezeichnen. Die im Jahr 2000 vom Bischofsrat der Russischen Orthodoxen Kirche verabschiedeten Grundlagen der Sozialkonzeption verurteilen Angriffskriege. Priester, die sich weigerten, das von Kyrill eingefügte Gebet für den Heiligen Krieg in der Liturgie zu erwähnen, wurden a divinis suspendiert. Das Problem für Russland besteht darin, dass die Drohung, die Priesterweihe zu widerrufen, bei verheirateten Geistlichen die Angst schürt, die Familie nicht mehr ernähren zu können.

Und wie beurteilen andere Orthodoxe Kirchen das Verhalten des Moskauer Patriarchats?
In der Ukraine hat der Krieg inzwischen zur Folge, dass es dort eine autokephale Kirche gibt, die von Konstantinopel anerkannt wird. Die andere, einst mit Moskau verbundene Kirche hat mit den Positionen Kirills gebrochen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Geld und Geistliche aus der Ukraine für das Moskauer Patriarchat kamen, denn in Russland gehen nur 2 % der Bevölkerung zur Messe. Es besteht die Gefahr, dass die russische Kirche nur noch eine nationale, ich würde sagen lokale Kirche wird."

Quelle: N. Spuntoni, LNBQ

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