katholisches.info veröffentlicht einen in der Zeitschrift Hochland veröffentlichten Text, den der junge Priester Joseph Ratzinger 1958 verfaßte und den jetzt anläßlich der aktuellen Kirchen-Krise zuletzt der argentinische blog "The Wanderer" nachgedruckt hat. Giuseppe Nardi hat das Vorwort geschrieben. Hier geht´s zum Original: klicken
"RATZINGERS PROPHEZEIUNG: DIE KIRCHE DER NEUHEIDEN"
1958 analysierte der junge Priester Joseph Ratzinger die Situation und die Zukunft der Kirche in einem Artikel, der mit dem Titel „Die neuen Heiden und die Kirche“ in der Zeitschrift Hochland veröffentlicht wurde. Der Artikel erwies sich als prophetisch. Er wurde bereits mehrfach nachgedruckt.
Nun machte der argentinische Blogger Caminante Wanderer mit Blick auf die aktuelle Kirchenentwicklung darauf aufmerksam. Ein Anstoß, dem Text die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Man mag der Überlegung der doppelten Erwählung vielleicht nicht vorbehaltlos folgen, doch der klare Blick, die Entwicklung zu erkennen, auch der chronologische Ansatz, beeindrucken sehr.
Ratzinger brachte seine Gedanken zu Papier, als das Pontifikat von Pius XII. seinem Ende zuging. Seither sind mehr als 66 Jahre vergangen.
In diesen hat sich die Grundannahme Ratzingers nicht nur vor aller Augen ausgebreitet, sondern ist rasant fortgeschritten. Die Möglichkeit, daß selbst Hirten und Oberhirten zu Neuheiden werden könnten, konnte oder wollte Ratzinger damals noch nicht einmal denken. Er ging in seiner Analyse noch von einer intakten kirchlichen Hierarchie aus. Diese kann heute in manchen Gegenden und Bereichen nicht mehr uneingeschränkt vorausgesetzt werden.
Wobei zentral ist, daß, in der hierarchisch verfaßten Kirche, die Hierarchie die Hierachie ernennt, weshalb das Problem immer oben, nicht unten liegt. Ein Aspekt, der Ratzinger unmittelbar betrifft, da er viele Jahre später fast acht Jahre lang die Kirche leiten sollte. Bemerkenswert ist auch die Anspielung auf das verblassende Bewußtsein der Heilsnotwendigkeit, die inzwischen vom derzeitigen Papst selbst nur mehr verschwommen präsentiert wird, zumal laut seiner Darlegung alle Religionen Wege zu Gott seien.
Hier der vollständige Text von Joseph Ratzingers Aufsatz, der seiner Zeit weit voraus war, besonders was die Forderung nach Entweltlichung betrifft, der aber, was das Ausmaß der Verweltlichung betrifft, ihr inzwischen hinterherhinkt.
DIE NEUEN HEIDEN UND DIE KIRCHE
Von Joseph Ratzinger
Nach der Religionsstatistik ist das alte Europa noch immer ein fast vollständig christlicher Erdteil. Aber es gibt wohl kaum einen zweiten Fall, in dem jedermann so genau wie hier weiß, daß die Statistik täuscht: Dieses dem Namen nach christliche Europa ist seit rund vierhundert Jahren zur Geburtsstätte eines neuen Heidentums geworden, das im Herzen der Kirche selbst unaufhaltsam wächst und sie von innen her auszuhöhlen droht. Das Erscheinungsbild der Kirche der Neuzeit ist wesentlich davon bestimmt, daß sie auf eine ganz neue Weise Kirche der Heiden geworden ist und noch immer mehr wird: nicht wie einst, Kirche aus den Heiden, die zu Christen geworden sind, sondern Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen, aber in Wahrheit zu Heiden wurden.
Das Heidentum sitzt heute in der Kirche selbst, und gerade das ist das Kennzeichnende sowohl der Kirche unserer Tage wie auch des neuen Heidentums, daß es sich um ein Heidentum in der Kirche handelt und um eine Kirche, in deren Herzen das Heidentum lebt. Der Mensch von heute kann also als Normalfall den Unglauben seines Nachbarn voraussetzen.
Als die Kirche entstand, ruhte sie auf der geistigen Entscheidung des einzelnen zum Glauben, auf dem Akt der Bekehrung. Wenn man anfangs erhofft hatte, daß sich eine Gemeinschaft von Heiligen schon hier auf der Erde aus diesen Bekehrten erbauen werde, eine „Kirche ohne Fehl und Runzel“, so mußte man sich unter schweren Kämpfen immer mehr zu der Erkenntnis durchringen, daß auch der Bekehrte, der Christ, ein Sünder bleibt und daß selbst die schwersten Vergehen in der christlichen Gemeinschaft möglich sein werden. Aber wenn der Christ demnach auch kein moralisch Vollendeter war und in diesem Sinn die Gemeinschaft der Heiligen immer unfertig blieb, gab es doch eine Grundgemeinsamkeit. Kirche war eine Gemeinschaft von Überzeugten, von Menschen, die eine bestimmte geistige Entscheidung auf sich genommen hatten und sich dadurch von all denen abhoben, die sich dieser Entscheidung verweigerten. Im Mittelalter bereits änderte sich dies dadurch, daß Kirche und Welt identisch wurden und so Christsein im Grunde keine eigene Entscheidung mehr war, sondern eine politisch-kulturelle Vorgegebenheit.
Drei Ebenen der Entweltlichung
Heute ist die äußere Deckung von Kirche und Welt geblieben; die Überzeugung jedoch, daß sich darin „in der ungewollten Zugehörigkeit zur Kirche“ eine besondere göttliche Huld, eine jenseitige Heilswirklichkeit verbirgt, ist gefallen. Fast niemand glaubt so recht, daß an dieser sehr zufällig kulturpolitischen Vorgegebenheit „Kirche“ etwa das ewige Heil hängen kann. So ist es verständlich, daß heute vielfach sehr eindringlich die Frage gestellt wird, ob man nicht die Kirche wieder in eine Überzeugungsgemeinschaft verwandeln sollte, um ihr so ihren großen Ernst wieder zu geben. Das würde bedeuten, daß man auf die noch vorhandenen weltlichen Positionen rigoros verzichtet, um einen Scheinbesitz abzubauen, der sich mehr und mehr als gefährlich erweist, weil er der Wahrheit im Wege steht.
Es wird der Kirche auf die Dauer nicht erspart bleiben, Stück um Stück von dem Schein ihrer Deckung mit der Welt abbauen zu müssen und wieder das zu werden, was sie ist: Gemeinschaft der Glaubenden. Tatsächlich wird ihre missionarische Kraft durch solche äußere Verluste nur wachsen können: Nur wenn sie aufhört, eine billige Selbstverständlichkeit zu sein, nur wenn sie anfängt, sich selber wieder als das darzustellen, was sie ist, wird sie das Ohr der neuen Heiden mit ihrer Botschaft wieder zu erreichen vermögen, die sich bisher noch in der Illusion gefallen können, als wären sie gar keine Heiden.
Freilich wird ein solches Zurücknehmen äußerer Positionen auch einen Verlust von wertvollen Vorteilen bringen, die sich aus der heutigen Verflechtung der Kirche mit der Öffentlichkeit zweifellos ergeben. Es handelt sich dabei um einen Prozeß, der mit oder ohne Zutun der Kirche vor sich gehen wird, auf den sie sich also einstellen muß.
Alles in allem muß man bei diesem notwendigen Vorgang der Entweltlichung der Kirche drei Ebenen genau auseinanderhalten: die Ebene des Sakramentalen, die der Glaubensverkündigung und die des persönlich-menschlichen Verhältnisses zwischen Gläubigen und Ungläubigen.
Die Ebene des Sakramentalen, einst von der Arkan-Disziplin umgrenzt, ist die eigentliche innere Wesensebene der Kirche. Es muß wieder klar werden, daß Sakramente ohne Glauben sinnlos sind, und die Kirche wird hier allmählich und in aller Behutsamkeit auf einen Aktionsradius verzichten müssen, der letztlich eine Selbsttäuschung und eine Täuschung der Menschen einschließt.
Je mehr die Kirche hier die Selbstabgrenzung, die Unterscheidung des Christlichen, wenn nötig zur kleinen Herde hin, vollziehen wird, desto realistischer wird sie auf der zweiten Ebene, auf der der Glaubensverkündung, ihre Aufgabe erkennen können und müssen. Wenn das Sakrament die Stelle ist, wo die Kirche sich gegen die Nichtkirche abschließt und abschließen muß, dann ist das Wort die Art und Weise, mit der sie die offene Geste der Einladung zum Gottesmahl weiterführt.
Auf der Ebene der persönlichen Beziehungen schließlich wäre es ganz verkehrt, aus der Selbstbegrenzung der Kirche, die für den sakramentalen Bereich gefordert wurde, eine Abkapselung des gläubigen Christen gegenüber seinen nichtgläubigen Mitmenschen ableiten zu wollen.
Natürlich soll unter den Gläubigen selber allmählich wieder etwas wie die Brüderlichkeit der Kommunikanten aufgebaut werden, die sich durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zum Gottestisch auch im privaten Leben miteinander verbunden fühlen und wissen, daß sie in Notsituationen aufeinander zählen können, eben wirklich eine Familiengemeinschaft sind. Aber das darf keine sektiererische Abschließung zur Folge haben, sondern der Christ soll gerade auch ein fröhlicher Mensch unter Menschen sein können, ein Mitmensch, wo er nicht Mitchrist sein kann.
Zusammenfassend können wir als Ergebnis dieses ersten Gedankenkreises festhalten: Die Kirche hat zunächst den Strukturwandel von der kleinen Herde zur Weltkirche durchgemacht; sie deckt sich seit dem Mittelalter im Abendland mit der Welt. Heute ist diese Deckung nur noch Schein, der das wahre Wesen der Kirche und der Welt verdeckt und die Kirche zum Teil an ihrer notwendigen missionarischen Aktivität hindert. So wird sich über kurz oder lang mit dem oder gegen den Willen der Kirche nach dem inneren Strukturwandel auch ein äußerer, zum pusillus grex, zur kleinen Herde, vollziehen.
Ein zweiter Heilsweg?
Der Gläubige fragt sich ein wenig verwirrt: Warum können die draußen es so einfach haben, wenn es uns so schwer gemacht wird? Er kommt dahin, den Glauben als eine Last und nicht als Gnade zu empfinden. Auf jeden Fall bleibt ihm der Eindruck zurück, daß es letztlich zwei Heilswege gibt: den durch die bloße und sehr subjektiv zugemessene Moralität für die außerhalb der Kirche Stehenden und den kirchlichen. Er kann nicht das Empfinden haben, als hätte er den angenehmeren erwischt; auf jeden Fall ist seine Gläubigkeit durch die Aufrichtung eines Heilsweges neben der Kirche empfindlich belastet. Daß die missionarische Stoßkraft der Kirche unter dieser inneren Unsicherheit aufs empfindlichste leidet, ist klar.
Die Wenigen und die Vielen
Ich versuche als Antwort auf diese den Christen von heute wohl am meisten belastende Frage in ganz kurzen Andeutungen zu zeigen, daß es nur einen Heilsweg gibt, nämlich den über Christus. Ihm eignet aber von vornherein ein doppelter Radius: er betrifft „die Welt“, „die vielen“ (das heißt alle); gleichzeitig aber wird gesagt, sein Ort sei die Kirche. So gehört zu diesem Weg vom Wesen her ein Zueinander von „wenigen“ und „vielen“, das als ein Füreinander Teil der Form ist, in der Gott rettet nicht Ausdruck für das Mißlingen göttlichen Wollens. Das fängt schon damit an, daß Gott das Volk Israel aus allen Völkern der Welt ausgrenzt als das Volk seiner Erwählung. Soll das etwa heißen, daß nur Israel erwählt ist und daß alle anderen Völker zum Abfall geworfen werden?
Am Anfang sieht es in der Tat so aus, als ob diese Nebeneinanderstellung von erwähltem Volk und nicht-erwählten Völkern in diesem statischen Sinn zu denken wäre: als ein Nebeneinander zweier verschiedener Gruppen. Aber sehr bald zeigt sich, daß es nicht so ist; denn in Christus wird das statische Nebeneinander von Juden und Heiden dynamisch, so daß nun gerade auch die Heiden durch ihre Nicht-Erwähltheit hindurch zu Erwählten werden, ohne daß dadurch die Erwählung Israels endgültig illusorisch würde, wie das 11. Kapitel vom Brief des Apostels Paulus an die Römer zeigt.
So sieht man, daß Gott Menschen auf zweierlei Art erwählen kann: direkt oder durch ihre scheinbare Verwerfung hindurch. Deutlicher gesagt: Man stellt fest, daß Gott zwar die Menschheit in die „Wenigen“ und die „Vielen“ einteilt, eine Unterteilung, die in der Schrift immer wiederkehrt. Jesus gibt sein Leben als Lösegeld für „die vielen“ (Mk 10,45); das Gegenüber von Juden und Heiden und Kirche und Nicht-Kirche wiederholt diese Teilung in die Wenigen und die Vielen.
Aber Gott teilt die Menschheit nicht deshalb in die Wenigen und die Vielen, um diese in die Abfallgrube zu werfen und jene zu retten; auch nicht, um die Vielen leicht und die Wenigen umständlich zu retten, sondern er benutzt die Wenigen gleichsam als den archimedischen Punkt, von wo aus er die Vielen aus den Angeln hebt, als den Hebel, mit dem er sie zu sich zieht. Beide haben ihre Stelle im Heilsweg, die verschieden ist, ohne die Einheit des Weges aufzuheben.
Man kann dieses Gegenüber erst dann richtig verstehen, wenn man sieht, daß ihm das Gegenüber von Christus und Menschheit, von dem Einen und den vielen zugrunde liegt. Das Heil des Menschen besteht ja darin, daß er von Gott geliebt wird, daß sein Leben sich am Ende in den Armen der unendlichen Liebe findet. Ohne sie bliebe ihm alles andere leer.
Eine Ewigkeit ohne Liebe ist die Hölle, auch wenn einem sonst nichts geschieht. Das Heil des Menschen besteht im Geliebtwerden von Gott. Aber auf Liebe gibt es keinen Rechtsanspruch, auch nicht aufgrund moralischer oder sonstiger Vorzüge. Liebe ist wesentlich ein freier Akt, oder sie ist nicht sie selbst.
So bleibt es also dabei: In dem Gegenüber zwischen Christus, dem Einen, und uns, den Vielen, sind wir des Heiles unwürdig, ob Christen oder Nicht-Christen, Gläubige oder Ungläubige, moralisch oder unmoralisch; keiner „verdient“ das Heil wirklich außer Christus. Aber eben hier geschieht der wunderbare Tausch. Den Menschen allen zusammen gehört die Verwerfung, Christus allein das Heil – im heiligen Tausch geschieht das Gegenteil: Er allein nimmt das ganze Unheil auf sich und macht so den Heilsplatz für uns alle frei.
Der wunderbare Tausch
Alles Heil, das es für den Menschen geben kann, berührt auf diesem Urtausch zwischen Christus, dem einen, und uns, den vielen, und es ist die Demut des Glaubens, dies zuzugeben. Damit könnte die Sache eigentlich ihr Bewenden haben, aber überraschenderweise tritt nun noch dies hinzu, daß sich nach Gottes Willen dieses große Geheimnis der Stellvertretung, von dem die ganze Geschichte lebt, fortsetzt in einer ganzen Fülle von Stellvertretungen und ihre Krönung und Vereinigung in dem Zueinander von Kirche und Nicht-Kirche, von Gläubigen und „Heiden“, hat.
Der Gegensatz von Kirche und Nicht-Kirche bedeutet nicht ein Nebeneinander und nicht ein Gegeneinander, sondern ein Füreinander, in dem jede Seite ihre Funktion besitzt. Den Wenigen, welche die Kirche sind, ist in der Fortführung der Sendung Christi die Vertretung der Vielen aufgetragen, und die Rettung beider geschieht nur in ihrer Zuordnung zueinander und in ihrer gemeinsamen Unterordnung unter die große Stellvertretung Jesu Christi, die sie beide umspannt.
Wenn aber die Menschheit in dieser Vertretung durch Christus und in ihrer Fortführung durch die Dialektik von „Wenigen“ und „Vielen“ gerettet wird, so heißt das auch, daß jeder Mensch, daß vor allem die Gläubigen ihre unausweichliche Funktion im Gesamtprozeß der Rettung der Menschheit haben. Keiner hat das Recht zu sagen: Siehe, es werden andere gerettet ohne den vollen Ernst des katholischen Glaubens, warum nicht auch ich?
Woher weißt du denn, daß der volle katholische Glaube nicht gerade deine sehr notwendige Sendung ist, die Gott dir auferlegt hat aus Gründen, die du nicht markten sollst, weil sie zu den Dingen gehören, von denen Jesus sagt: Du kannst sie jetzt noch nicht verstehen, sondern erst später (vgl. Joh 13,36).
So gilt im Blick auf die modernen Heiden, daß der Christ ihr Heil in Gottes Gnade geborgen wissen darf, von der ja auch sein Heil abhängt, daß er sich aber im Blick auf ihre mögliche Rettung nicht von dem Ernst seines eigenen gläubigen Daseins dispensieren kann, sondern daß gerade ihr Unglaube ihm verstärkter Ansporn zu gefüllterem Glauben sein muß, in dem er sich mit in die Stellvertretungsfunktion Jesu Christi einbezogen weiß, an der das Heil der Welt und nicht bloß das der Christen hängt.
Gott allein rechtfertigt
Ich möchte zum Abschluß diese Gedanken noch etwas verdeutlichen durch eine kurze Auslegung zweier Texte der Schrift, in denen eine Stellungnahme zu diesem Problem erkennbar wird.
Da ist zuerst der schwierige und lastende Text, in dem der Gegensatz von Vielen und Wenigen besonders eindringlich ausgesprochen wird: „Viele sind berufen, Wenige aber auserwählt“ (Mt 22,14). Was besagt dieser Text? Er sagt doch nicht, daß viele verworfen werden, wie man gemeinhin aus ihm heraushört, sondern zunächst nur, daß es zwei verschiedene Formen des göttlichen Erwählens gibt. Noch genauer:
Er sagt deutlich, daß es zwei verschiedene göttliche Akte gibt, die beide auf die Erwählung zielen, ohne uns schon Klarheit zu geben, ob beide auch ihr Ziel erreichen. Wenn man aber den Gang der Heilsgeschichte betrachtet, wie ihn das Neue Testament auslegt, so findet man dieses Herrenwort illustriert: Aus dem statischen Nebeneinander von auserwähltem Volk und nicht erwählten Völkern wurde in Christus ein dynamisches Verhältnis, so daß die Heiden gerade durch die Nichterwähltheit hindurch zu Erwählten wurden und dann freilich durch die Erwählung der Heiden hindurch auch die Juden in ihre Erwählung zurückkehren. So kann uns dieses Wort zu einer wichtigen Lehre werden.
Die Frage nach dem Heil der Menschen ist immer dann falsch gestellt, wenn sie von unten her gestellt wird, als Frage, wie die Menschen sich rechtfertigen. Die Frage des Heils der Menschen ist keine Frage der Selbstrechtfertigung, sondern eine der Rechtfertigung durch Gottes freie Huld. Es geht darum, die Dinge von oben zu sehen. Es gibt nicht zwei Weisen, wie Menschen sich rechtfertigen, sondern zwei Weisen, wie Gott sie erwählt, und diese zwei Weisen der Erwählung durch Gott sind der eine Heilsweg Gottes in Christus und seiner Kirche, der auf dem Zueinander der Wenigen und Vielen und auf dem Stellvertretungsdienst der Wenigen in der Verlängerung von Christi Stellvertretung ruht.
Der zweite Text ist der vom großen Gastmahl (Lk 14,16–24 par). Dieses Evangelium ist zunächst in sehr radikalem Sinne Frohbotschaft, wenn es erzählt, daß am Ende der Himmel vollgestopft wird mit allen, die man nur irgendwie auftreiben kann; mit Leuten, die gänzlich unwürdig sind, die im Verhältnis zum Himmel blind, taub, lahm, Bettler sind.
Also ein radikaler Gnadenakt, und wer wollte bestreiten, daß nicht auch etwa all unsere modernen europäischen Heiden von heute auf diese Weise mit in den Himmel hineinkommen können? Jeder hat auf Grund dieser Stelle Hoffnung. Andererseits: Der Ernst bleibt. Es gibt die Gruppe jener, die für immer zurückgewiesen werden. Wer weiß, ob unter diesen zurückgewiesenen Pharisäern nicht auch so mancher ist, der glaubte, sich für einen guten Katholiken halten zu dürfen, in Wirklichkeit aber ein Pharisäer war? Wer weiß freilich umgekehrt, ob unter denjenigen, welche die Einladung nicht annehmen, nicht gerade auch jene Europäer sind, denen das Christentum angeboten war, die es aber haben fallenlassen?
So bleibt für alle Hoffnung und Drohung zugleich. In diesem Schnittpunkt von Hoffnung und Drohung, aus dem sich der Ernst und die hohe Freude des Christseins ergeben, hat der Christ von heute sein Dasein zu meistern inmitten der neuen Heiden, die er auf andere Weise in dieselbe Hoffnung und Drohung gestellt erkennt, weil es auch für sie kein anderes Heil gibt als das eine, an das er glaubt: Jesus Christus, den Herrn.
Einleitung: Giuseppe Nardi
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