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Sonntag, 24. April 2022

"Die Kirche in voller Krise", Fortsetzung

In der Fortsetzung von hier und hier befaßt sich Autor Roberto Pertici mit dem religiösen Wiedererwachen im Europa des 19. Jahrhunderts,

 "Angesichts dieser Situation stellt sich spontan die Frage:  ist das ein unausweichlicher Trend und tatsächlich einer, der dazu bestimmt ist sich weiter zu beschleunigen, oder wird es möglich sein, diese Tendenz umzukehren? Werden wir- früher oder später- eine "religiöse Wiedergeburt" sehen, fähig dazu, nicht das alte Gleichgewicht wiederherzustellen (was nicht einmal wünschenswert ist) sondern eine Diskussion  des "Heiligen" und des letzten Ziels der Existenz neu zu eröffnen,  in einer Gesellschaft, die immer mehr aus Individuen besteht, die alle- so wurde geschrieben- in einer Endlichkeit ohne Leiden, das heißt ziellos und ohne Vergangenheit und Zukunft leben wollen? Und wird die Katholische Kirche in der Lage sein, bei dieser Wiedergeburt eine Rolle zu spielen oder eher wird sie eine Rolle spielen wollen? 

Die katholischen Freunde, denen ich diese Frage stelle, antworten mir gewöhnlich mit Wünschen oder Statements von Prinzipien: es braucht eine Generation von Heiligen... heilige Priester müssen erstehen, diszipliniert und kultiviert wie Charles Borromeo sie wollte... es gibt Zusagen ("non praevalebunt"), die erfordern, daß wir vertrauen...etc. 

Der Autor hat keine Geschichtsphilosophie, viel weniger eine Geschichtstheologie: er glaubt an die absolute Freiheit im Lauf der Geschichte ("Die Geschichte ist eine große Improvisatorin" pflegte der Graf von Cavour zu sagen) und gleichzeitig an die Möglichkeit, in dem was passiert ist und was passiert eine Logik zu identifizieren, die jedoch nicht zu einer Prädisposition für notwendige Resultate führt. Er sit deshalb überzeugt, daß der Prozess der Entchristlichung nicht die Frucht irgendeiner Verschwörung  ist, sondern tiefe Wurzeln in der Kultur und Geschichte der letzten Jahrhunderte hat; nichts desto trotz zögert er, zu behaupten, daß er nicht umkehrbar ist oder man ihm zumindest auf gewisse Weise widerstehen kann. 

Aber der Historiker kann keine Prophezeiungen machen, und wenn er das tut, so drückt er nur "Wunschdenken" aus, das letztlich kaum nützlich ist. Um zu versuchen die gerade formulierten Fragen zu beantworten, gibt es jedoch etwas, das er tun kann: er kann auf die Berge der Jahrhunderte klettern und auf die Geschichte der letzten 500 Jahre blicken- seit der Entwicklung und dem Einsetzen dessen, was "Moderne" genannt wird. Hat es in dieser Geschichte Augenblicke einer "religiösen Wiedergeburt " gegeben und mit welchen Eigenschaften und welchen Ergebnissen? Und welche Rolle hat die "offizielle" Kirche dabei gespielt?

2. Natürlich hat es die gegeben, wie wir gleich sehen werden. Es gab Phasen (die ich genau als "religiöse Wiedergeburt" bezeichne) in denen wichtige Bereiche der Europäischen Kultur dazu zurück gekehrt sind, über Religion zu diskutieren und über religiöse Probleme nachzudenken; in der tat haben sie nicht gezögert, Gründe für eine "Orthodoxie" zu verteidigen und  die Funktion der Kirchen-Institutionen zuzulassen und sogar zu preisen. Bei allen diesen Wiedergeburten ist die Hauptrolle- wie wir sehen werden- mehr von den Laien als von den Klerikern gespielt worden. 

Man wird sagen, das ist immer noch eine Sache von Vorgängen, die sich auf die Welt der Kultur und Intellektuellen beschränken, ohne eine echte Beziehung zum religiösen Leben der "Massen". Das ist wahr, aber die kulturelle Sphäre ist eine Art "Selbstbewusstsein der Gesellschaft", und daher wird eine hegemoniale Rolle, früher oder später, von religiösen Auswirkungen sowie der viel breiteren politischen und sozialen: die Gegenreformation kam sogar in die kleinen Städte, die sich im Comer See widerspiegeln, wenn es stimmt, daß in "Die Verlobten" Renzo Tramaglino und Lucia Mondella mit einem in den neuen Seminaren ausgebildeten Kuraten interagieren, für die vom Konzil von Trient  sorgte, mit einem Bettelmönch der einem der Orden (den Kapuzinern) angehört, die von der katholischen Reform wertgeschätzt werden, und sogar mit einem Kardinal, der seinen pastoralen Besuch , auch gemäß den Vorschriften des vorherigen Konzils.


Die Katholische Reform: das ist die erste Bewegung einer "religiösen Wiedergeburt" die in der Katholischen Welt nach dem Sturm der Protestantischen Reformation. Diese Wahrnehmung wurde laut Delio Cantimori durch Hubert Jedins kurzes Buch von 1946 "Voll wie ein Ei" populär,  Der deutsche Historiker machte einen konzeptionellen Unterschied im Hinblick auf die politische und die religiöse Gegenreformation, die vom Konzil von Trient angestoßen wurde. Die katholische Reform sollte nicht wie die Gegenreformation eine repressive und disziplinäre Bewegung sein (Aspekte, auf die dennoch in den vergangenen Jahrzehnten großer Nachdruck gelegt wurde) sondern war eine ein bißchen spontane  Tendenz, die bereits bei Persönlichkeiten und Kreisen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vorhanden war, die dann aufblühten und zu der als Antwort auf die Reformation auf ihrem eigenen Boden ermutigt wurde, könnte man sagen. Das wurde vom Konzil von Trient unterstützt; der Kampf gegen die Mißbräuche der Hierarchie und ihr häufig skandalöses  Benehmen, ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Moral und Spiritualität, eine Reform der Seminare und der geistlichen Ausbildung, neue religiöse Orden, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgebungen arbeiten, erneuerte Formen der Frömmigkeit und der Volksfrömmigkeit usw.

Die Katholische Reform war deshalb eine "religiöse Wiedergeburt" bei den das Handeln der Kirchen-Institutionen immer noch eine entscheidende Rolle. Dennoch - wenn wir kulturell reifere und länger anhaltende Früchte wollen, müssen wir uns in die Mitte des 17. Jahrhunderts nach Frankreicg begeben, zu dieser Reaktion auf die Ausbreitung der Libertinage und der neuen Naturphilosophie von Pascal zu Bossuet zu Malebranche: in dieser unvergleichlichen Zeitspanne, die von Sainte-Beuve in seinem "Port-Royal" beschrieben wird. Eine Bewegung, auf die die kirchlichen Institutionen manchmal mit großer Worge und sogar Feindseligkeit sowohl auf doktrinaler (Jansenismus) als auch auf politischer (Gallikanismus) Ebene, aber die für über eineinhalb Jahrhunderte ein unausweichlicher Referenzpunkt für einen Katholiken blieben, der seinem Glauben eine kulturelle Grundlage geben will- außerhalb der Kultur der Seminare: es ist kein Zufall, daß nach 1810 ein Schriftsteller und Philosoph wie Alessandro Manzoni - bei dem Bemühen katholisch zu denken- zuerst auf diese Quellen zurückgreifen mußte. 

Wann endet diese erste "Wiedergeburt“? Wir können ein Datum wagen, indem wir der Hypothese eines anderen großen Buches des zwanzigsten Jahrhunderts folgen, "Die Krise des europäischen Gewissens“ von Paul Hazard: Das Datum ist 1685, als Ludwig XIV. mit dem Edikt von Fontainebleau aus höchst politischen Gründen die religiöse Toleranz in Frankreich abschaffte, die 1598 mit dem Edikt von Nantes von Heinrich IV. sanktioniert worden war. Die darauffolgende Auswanderung der führenden Hugenotten-Intellektuellen insbesondere nach Holland und hier die Entwicklung einer Reihe von antikatholischen und sogar antireligiösen Polemiken war das Symptom eines Paradigmenwechsels, der zum Deismus, zur natürlichen Religion führen sollte, bis zur ersten Bibelkritik, bis zur Infragestellung von Wundern: alles Phänomene, die sich dann in der mehr oder weniger radikalen Aufklärung des 18. Jahrhunderts ungestüm entwickeln sollten.

3. Es waren die Traumata der Französischen Revolution und der Revolutionskriegel, die die Voraussetzungen für eine neue "religiöse Wiedergeburt" bildeten. Auch hier können wir ein irgendwie symbolisches Datum anzeigen: die Veröffentlichung von "Genius des Christentums" von Francois-Auguste de Chateaubriand im napoleonischen Frankreich am 14. April 1802. Der Autor, der zu dieser Zeit 34 Jahre alt war, war der typische Repräsentant eines durch die revolutionären Ereignisse geschwächten Adels: nachdem der Verwandte und Freunde durch die Guillotine verloren hatte und in der Welt herumgewandert war, hatte er den libertären Agnostizismus überwunden, der für die Aufklärung typisch war und kehrte zur Religion seiner Väter zurück. In den folgenden Jahrhunderten ein weit verbreitetes Phänomen im europäischen Adel : man könnte dabei an die Familie Cavour denken, die sich nach Jahrzehnten religiöser Indifferenz der häuslichen Verehrung des Hl. Franziskus von Sales widmeten. 

Die Aufgabe des Sensualismus des 18. Jahrhunderts, der wiedergeborene Sinn für die Traditionen und ihre Werte, das Mißtrauen gegenüber einer Vernunft, die stolz verkündet hatte, sie würde die Welt nach ihrem eigenen Bild neu machen, die Neubewertung des gesunden Menschenverstandes - dessen, was- so sagt man- die Menschen immer gedacht und gefühlt haben und Wertschätzung von Gefühl und Vorstellungskraft, kurz gesagt ein neues kulturelles Paradigma das wir in weitem Sinne als "romantisch" definieren, ausgelöst durch eine neue Welle der Religiosität und auch einer Rückkehr subtsntieller Teile der europäischen Kultur zum religiösen Glauben. Unter den Intellektuellen, d.h. denen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch eine komplette religiöse Gleichgültigkeit charkaterisiert wurden, wenn nicht sogar durch geharnischte Angriffe gegen die Religion, es gab eine Serie von sensationellen Konversionen: in Italien bleibt die berühmteste tatsächlich die von Manzoni. 

Nach 1815 war das Bestreben nach einer Restauration in der europäischen Gesellschaft weit verbreitet: die Kirche kam als ihr Interpretatorin dazu und förderte sie in einer zwiespältigen Beziehung mit der politischen Macht,  Zwiespältig weil kein Herrscher wirklich für eine volle Wiederherstellung der "societas christiana"  offen war, so sehr, daß bald eine Reihe katholischer Denker, die von ihr geträumt hatten, anfing zu sagen; wenn die Dinge so stehen, dann sollte die Kirche, anstatt sich selbst mit diesen Staaten zu kompromittieren, Segel setzen sollte und beginnen, über ihre Freiheit nachzudenken. Aber die Einführung des Themas der Freiheit der Kirche  impliziert -mehr oder weniger ausdrücklich breitere moderne Freiheiten. Dann, nach der Pariser Revolution von 1830 begann die große Zeit des liberalen Katholizismus. 

Es ist nicht voreilig zu sagen daß zwischen 1830 und 1848 die Katrholische Kultur (auch die der Katholischen Laien) vielleicht zum letzten mal versuchte, eine herrschende Rolle in Westeuropa zu spielen. Nach 1830 war das religiöse und katholische Element die Hauptstütze großer nationaler Revolutionen ( der belgischen, polnischen , irischen), die die europäische öffentliche Meinung aufheizten und in denen das Wort "Freiheit“ weithin erklang: die neuen Katholiken mobilisierte und den Heiligen Stuhl in Verlegenheit brachte, der stattdessen auf dem Thema der politischen Loyalität seiner Untertanen bestand. Die vorerst einzige siegreiche Revolution, die belgische, führte zu einer konstitutionellen Monarchie, die zum ersten Mal eine katholische Partei einbezog, die einen grundlegenden Beitrag zur Ausarbeitung der neuen Verfassung (die faktisch die Trennung von Staat und Kirche bekräftigt) leisten sollte, gemeint ist die Befreiung der Kirche von allen Kontrollen und Konditionierungen des alten Jurisdiktionalismus): das konkretisierte die Möglichkeit einer Koexistenz zwischen katholischer Welt und konstitutionellen Regierungen.

Trotz der Verdammung durch die Enzyklika "Mirari vos" (15. August 1832) und dem Bruch des "apostatischen" Lammenais, begann die große Zeit des liberalen Katholizismus in Frankreich, mit der Charles de Montalembert die liberale Welt mit wenigen Themen- wie Freiheit der Lehre- herausforderte.  In Spanien lebte Juan Donoso Cortés seine liberale Jugend als Anti-Carlist. Die Emanzipation von 1829 holte die englischen Katholiken aus den Katakomben und der Katholizismus stand im Zentrum der religiösen Diskussionen  der 1940-er , mit der Entwicklung der Oxford-Bewegung. 

In der sehr komplizierten religiösen Lage Deutschlands fand der in München versammelte Kreis um Johann Joseph von Görres einen wichtigen Ausdruck in der Verteidigung kirchlicher Vorrechte gegenüber der Staatsgewalt („Athanasius“, 1838). Dies erklärt, warum die Kirche angesichts der Revolutionen von 1848 zumindest anfänglich nicht als integraler Bestandteil der konterrevolutionären Front angesehen wurde: nicht einmal in Frankreich, wie der Tod des Pariser Erzbischofs Denis-August Affre am 27. Juni 1848 auf den Barrikaden bei dem Versuch, Frieden zwischen den aufständischen Arbeitern und den Truppen von Cavaignac zu stiften, zeigt. 

Das Erwachen der religiösen Kultur (und die Notwendigkeit religiöser Reformen) dieser Jahre war erstaunlich, sogar in Italien: Vom 11. November 1830 bis zum 19. Juli 1834 schrieb Raffaello Lambruschini die ersten sechs "Gedanken eines Einsamen“; zwischen 1832 und 1833 komponierte Antonio Rosmini "Von den fünf Wunden der heiligen Kirche“,  sie päter 1848 veröffentlicht wurden; 1834 veröffentlichte Silvio Pellico die "Männerpflichten“, und Gino Capponi begann mit der Niederschrift der "Zivilgeschichte der Kirche“. 1835 veröffentlichte Niccolò Tommaseo, ein Exilant in Frankreich, in Paris "Über Italien“, das einem großen Lamennaisschen Manifest gleicht. Priester, Historiker, Gelehrte, Revolutionäre, wer sie auch gewesen sein mögen, sie alle waren davon überzeugt, daß die zukünftige Wiedergeburt Italiens zutiefst religiös sein musste: nur Pellico behauptete, daß der Katholizismus, so wie er war (oder fast) seine Seele sein könnte; die anderen dachten an eine Religion, die in ihrer ganzen Reinheit wiederhergestellt und somit von ihren weltlichen Privilegien (Rosmini) und auch vom Kirchenstaat (Tommaseo) befreit war, was manchmal an Heterodoxie grenzte (Lambruschini).

4. Diese "religiöse Wiedergeburt" endete mit dem Scheitern der Revolutionen von 1848-49....

Fortsetzung folgt....

Quelle: R. Pertici, S. Magister, Settimo Cielo

 

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