Montag, 27. Mai 2024

Das Pendel der Geschichte und Papst Franziskus

In seiner heutigen Kolumne für Monday in the Vatican befasst sich Andrea Gagliarducci mit dem Besuch des chinesischen Bischofs Shen Bin im Vatican und dem Kardinals Fernandez in Kairo. 
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"PAPST FRANZISKUS UND DAS SCHWINGENDE PENDEL DER GESCHICHTE" 

Zwei Ereignisse der vergangenen Woche waren besonders bedeutungsvoll. Eines war die internationale Konferenz zum 100. Jahrestag des Chinesischen Konzils in Gegenwart des einseitig von der Chinesischen Regierung und erst später von Papst Franziskus anerkannten Bischof von Schanghai, Shen Bin. Das andere war die Reise von Kardinal Victor Manuel Fernandez nach Kairo, um mit Papst Tawadros II, Oberhaupt der Koptisch-Orthodoxen Kirche zu sprechen. 

Wie hängen diese beiden Ereignisse zusammen?

Beide repräsentieren auf ihre Weise eine Seite von Papst Franziskus´ Pontifikat dar. In beiden Fällen entsteht der Eindruck, daß eine Art Katholische Cancel-Kultur auf dem Weg ist. Das heisst, dass die Notwendigkeit besteht, die Geschichte zu rekonstruieren, um den Missbrauch - real oder angenommen- der Vergangenheit zu überwinden und zur gleichen Zeit in die Zukunft zu blicken, indem vorgegeben wird, dass es für jeden in Ordnung ist, die Verbindung zu Vergangenheit zu verlieren. 

Bischof Shen Bins Gegenwart bei der vom Dicasterium für die Evangelisierung organisierten Internationalen Konferenz war deswegen bemerkenswert, weil der Bischof zum ersten mal nach Rom gekommen ist, seit Papst Franziskus seine einseitige Ernennung durch die chinesische Regierung anerkannt hat 

Shen Bin ist nicht einfach nur ein 2010 ordinierter Bischof mit doppelter Anerkennung durch Rom und den Vatican. Er ist ein Bischof, der trotzdem auf natürliche Weise mit der chinesischen Kommunistischen Partei verbunden ist, der dem Rat der Chinesischen Katholischen Bischöfe, einer staatlichen Körperschaft, vorsitzt und die Vision der von der Chinesischen Kommunistischen Partei geförderten Sinisierung unterstützt. 

In  seiner Rede bei der Konferenz, ging Bischof Shen so weit, zusagen, dass die Patriotischen Gesellschaft, die staatliche Organisation, in der die Bischöfe in China registriert sein müssen, nicht die Lehre der Kirche ändern will, sondern möchte, dass die Chinesische Kirche sich nach einem chinesischen Model entwickeln soll. Kurz gesagt, die Patriotische Vereinigung sollte nicht als staatlicher Eingriff in die Religion betrachtet werden sondern eher als Reaktion auf die Kolonialzeit. Zur gleichen Zeit muss die Kirche chinesisch sein und sich nach dem Model des modernen China entwickeln, d.h. dem, das vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping entworfen und realisiert wurde. 


Staatssekretär Pietro Parolin glich diese Aussage durch eine Rede voller Helldunkel aus, in der er die Entscheidung, direkt mit der chinesischen Regierung zu verhandeln, verteidigte, gleichzeitig wurde aber betont, daß die erste Voraussetzung dafür, daß ein Bischof in jedem lokalen Kontext integer handeln kann, darin besteht, daß die wesentliche Bindung zum Nachfolger Petri – dem Papst – tief verwurzelt ist und sorgfältig respektiert wird. Es gibt keinen Raum für Nationalismus in der katholischen Kirche und auch nicht in nationalen Versionen einer Kirche, sondern stattdessen Raum für Inkulturation und Verständnis.

Der Chinesische Rat war 1924von  Erzbischof Celso Costantini, dem damaligen päpstlichen Legaten in China (obwohl er später in der Römischen Kurie diente und Kardinal und Apostolischer Kanzler wurde) einberufen, genau damit die koloniale Mentalität der Kirche in den sogenannten "Auslandsmissionen"  - oft unter der Kontrolle politischer Protektorate- in China Autonomie und Handlungsfreiheit haben sollte. Das war die außergewöhnliche Vision von Papst Benedikt XV, wie er sie im Apostolischen Schreiben Maximum Illud beschrieben hat. Kardinal Parolin erinnert sich gut daran.

Allerdings wird diese frühere kolonialistische Mentalität bei vielen Interventionen auch zum Vorwand, um das aggressive Eingreifen des chinesischen Staates in religiöse Angelegenheiten zu rechtfertigen. Als ob die Ausrottung einer kolonialen und postkolonialen Vergangenheit eine Rechtfertigung für Verletzungen der Religionsfreiheit wäre oder auf jeden Fall die Situation verbessern würde.

Das Werk, mit der Vergangenheit zu brechen, war bereits im Gange, und die Ankunft der Kommunistischen Partei Chinas änderte weder diesen Wandel noch das Gesicht der Kirche. Stattdessen zwang sie die Kirche zu Kompromissen und verfolgte sie oft.

Wie hängt das mit Kardinal Fernandez Reise nach Ägypten zusammen?

Fernandez ging nach Ägypten, um den theologischen Dialog mit der Koptisch-Orthodoxen Kirche wieder herzustellen. Es hatte eine hervorragende Ebene theologisch-ökumenischer Beziehungen gegeben, aber Fiducia Supplicans - die Erklärung der Glaubenskongregation zur Segnung irregulärer Paare- hat sie unterbrochen.

Fiducia supplicans war für die Koptisch-Orthodoxe Kirche ein unzulässiges Statement, besonders betreffs der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Deshalb beschloss die Koptische Synode- eine reale Leitungs-Körperschaft der Koptischen Kirche- den theologischen Dialog auszusetzen, trotz der ausgezeichneten Beziehungen, Freundschaft und Nähe zwischen dem Stuhl Petri und dem Stuhl des Hl.Markus, die in der Aufnahme der von ISIS in Libyen ermordeten 21 Koptischen Märtyrer ins Martyrologium ihren Höhepunkt gefunden hatte.

Die Koptische Kirche hat ein Statement formuliert, das betont, wie Kardinal Fernandez die Lehre der Kirche zu homosexuellen Verbindungen wiederholt hat, daß es eine Erklärung zu Fiducia Supplicans gab und das die Erklärung Dignitas Infinita den Römischen Standpunkt zu homosexuellen Paaren sehr klar gemacht hat.

Die Koptisch -Orthodoxe Kirche hat die Erklärungen akzeptiert, aber das Statement stellt keine Wiederherstellung des theologischen Dialogs dar. Die Heilige Synode wird entscheiden müssen und man wird sehen müssen, ob die Erklärung zufriedenstellend war.

Das Problem ist, daß indem versucht wird, die pastorale Praxis zu unterwandern, die immer zu einer gesunden Differenzierung bei nicht formalen Segnungen geführt hat, Fiducia Supplicans auf irgendeine Weise das Gleichgewicht gestört, das zwischen doktrinaler und pastoraler Fürsorge herrschte- nicht nur in der Katholischen Kirche. Wie im Fall der Konferenz des Chinesischen Rates  gab es den Wunsch über die Vergangenheit hinauszugehen, in der Fehler gemacht worden waren. Nur war das Problem, daß diese Vergangenheit als "Vergangenheit der Irrtümer" betrachtet wurde, von denen durch einen neuen Zugang befreit werden konnte.

Im Dialog mit China – den der Heilige Stuhl nächste Woche im Vatikan fortsetzen und dabei über die Einigung über die Ernennung von Bischöfen sprechen wird – sowie mit der koptisch-orthodoxen Kirche zeigt sich die Notwendigkeit, über eine Vergangenheit hinauszugehen, mit Gefahr, daß Fehler bis in den Selbstmord begangen werden. Ein Selbstmord, der aus der Idee heraus entsteht, sich an alle zu wenden, aber dazu führt, dass die Kirche ihre Identität verliert und die Gläubigen verschiedene Vorurteile über das haben, was die Kirche war – Vorurteile, die manchmal ungerechtfertigt sind.

Es bleibt abzuwarten, ob Papst Franziskus seine eigenen Gedanken zu diesen Themen klar zum Ausdruck bringen wird, wie er es in Bezug auf Frauen im Diakonat im CBS-Fernsehen in den Vereinigten Staaten getan hat. Sein trockenes „Nein“, wenn man ihn zu diesem Thema befragt, zeugt davon, dass Franziskus die Erzählung über die Vergangenheit ändern und die Kirche neu positionieren kann, ohne die Lehre anzutasten, und dass er sich auch keine allzu großen Sorgen darüber macht, wer möglicherweise enttäuscht wird oder wie viel.

In letzter Zeit haben wir erlebt, wie das von Franziskus eingeführte Narrativ pendelartig in beide Richtungen schwankt. Das Problem: Es ist nur ein Narrativ.

Die Grenzen verlaufen zwischen einer Kolonialkirche, einer Sklavenhalterkirche einerseits und einer Kirche andererseits, die alle einbezieht, die indigenen Völker schätzt und im Dienste aller steht.

Zwischen diesen beiden Positionen muss mehr Ausgewogenheit hergestellt werden, und zwar nur dann, wenn es eine Gesamtvision gibt, die es uns ermöglicht, die Geschichte klarer zu betrachten.

Wenn die Kirche diese Vision nicht bietet, wer wird es dann tun?

Quelle: A.Gagliarducci, Monday-at-the-Vatican

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