Montag, 21. Juni 2021

Fr. Hunwicke spricht...

bei liturgicalanotes über seine Vorliebe für vergangene Epochen und wehrt sich gegen den Vorwurf, ein Nostalgiker zu sein. Hier geht´s zum Original: klicken

"NOSTALGIE UND DIE EINVERNEHMLICHE AFFÄRE PASIPHAES MIT DEM STIER" 

Ein Leser hat mir kürzlich, und wie ich finde, ein wenig arrogant, vorgeworfen, ich würde mich zu sehr von Nostalgie beherrschen lassen. Unfug! Ich folge lediglich dem Rat von C. S. Lewis "alte Bücher zu lesen“ - nicht, weil andere Zeitalter immer Recht hätten, sondern, wie er das auch sorgfältig erklärt, es sehr wahrscheinlich ist, daß das eine Recht hat, wo das andere irrt – und umgekehrt.
Eines der Jahrzehnte, zu dem ich häufig zurückschaue, sind die dreißiger Jahre, und das ist jedenfalls ein Jahrzehnt, das mir sehr dabei hilft, die Wurzeln einige der schlimmsten Irrtümer zu erkennen, die uns gegenwärtig zusetzen. Ich finde in diesem Jahrzehnt nicht etwa eine sichere Zuflucht vor der gegenwärtigen und mich ängstigenden Wirklichkeit, sondern Hilfe zum Verständnis der Gegenwart.
Und überhaupt und noch mehr: wie sollte ich mich ganz und gar in die Zukunft versenken? Und nach diesen Vorbemerkungen hier ein wenig klassische Nostalgie.

Im Rezensionsteil der Times vom vorletzten Samstag wurde der Film „Sweet Tooth“ vorgestellt. Die Besprechung war illustriert mit dem Bild eines kindlichen Jungen, eines amerikanischen vermutlich, und wie immer niedlich pummelig. Außerdem hatte er Ohren und Geweih eines Hirschs. "Gus ist ein seltener Hisch-Kind-Mischling mit  Geweih, mit Augen; die im Dunklen leuchten und einem überaus entwickelten Geruchssinn. Und eine schmalzige Stimme teilt uns mit, daß es ‚um die Geschichte eines ganz besonderen Jungen geht.“
Na sowas. Die Epoche, der ich mich ganz besonders gerne nostalgisch zuwende, hatte auch ihr Vergnügen an phantastischen Spielereien, auch mit imaginären Mischwesen.
Das vielleicht berühmteste davon war der Minotaurus. Und hier muß ich über eines der großen tragischen (in beiden Bedeutungen des Wortes) Geschehnisse der Literaturgeschichte sprechen. 
Ein Stück des Euripides mit dem Titel "Die Kreter“ ist verloren gegangen – vermutlich während jener Jahrhunderte, als Bruder Türke seine Nostalgie über den ganzen Balkan ausbreitete. Im dritten Jahrhundert (?) verloren- bis auf eine Seite auf einem Pergament (Sie dachten, ich würde jetzt Papyrus sagen, oder?). Erstmals herausgegeben bei dem großartigen Wilamowitz. Gedruckt bei Loeb Select Papyri III. 



Das Fragment ist nur klein, aber es macht mich mächtig neugierig auf das, was verloren gegangen ist. König Minos spricht von der hede xynergos – vermutlich die Figur der Amme, die sowohl in den Tragödien des Euripides als auch in der Neuen Komödie von Menander vorkommt. Was für ein Vergnügen hätten uns die Argumente bereitet, mit denen dieses verdorbene alte Weib die Königin Pasiphae dazu ermutigte, ihrer verbotenen Leidenschaft für den Stier nachzugeben! Wie delikat und plausibel wäre ihr allmähliches Nachgeben geschildert worden Ich frage mich, wie die Amme wohl die Botschaften zwischen Liebhaberin und Geliebtem ausgetauscht hätte.
So wie ich denken auch Sie wohl gerade darüber nach, ob Daedalus, der Supererfinder des Altertums aus einem vor-perikleischen Silicon Valley, einen Auftritt in diesem Stück gehabt hätte. Er würde darüber berichten, mit welcher Kunstfertigkeit er die künstliche Kuh geschaffen hatte, in die Pasiphae hineinkroch, um die, ähm, Huldigung des Stiers aufzunehmen.

Wir Kerle behaupten gelegentlich – unberechtigter Weise, versteht sich – das in jeder Diskussion zwischen einem Mann und einer Frau letzten Endes sie es fertig bringt, ihm  nachzuweisen, daß er daran schuld ist – was es auch immer sei. So beendet Pasiphae ihre Rede an Minos mit "toi m'apollus, se gar he 'xamartia, ek sou nosoumen " ("Du hast mich zugrunde gerichtet, dein ist die Verfehlung, von dir kommt mein Leiden!") Sie ist keine gewöhnliche Hure, und keineswegs hätten sie „der Anblick seiner schönen
Gewänder, der rotwein-leuchtende Lichtschein seiner Augen, sein rotbraunes Haar und der schwarze Bart an seinem Kinn“ verführt.
Ganz bestimmt nicht, meine Liebe – aber gibst Du hier nicht zu, daß Du selbst gerne anderen Männern schöne Augen machst?
Ich frage mich manchmal, ob dieser Monolog nicht stellenweise ironisch Wendungen und Begriffe aufgreift, wie sie sie wohl in einem Gespräch zwischen einem Ehemann und seiner jungen Frau gebraucht wurden, wenn er dahintergekommen war, daß sie in den inneren Gemächern nicht gar so sicher und unerreichbar untergebracht war, wie er angenommen hatte.
Man soll beim Lesen von Euripides nie die komödiantischen

Bei Euripides (ebenso auch bei Ovid) begegnen wir einer Art „komischen Realismus“, der sich die Frage stellt: „Wenn X möglich wäre – wie würde das im Einzelnen aussehen?“ Und ein wirklicher Hybrid hätte wahrscheinlich nicht wie ein knuddeliges kleines Bambi -Ausgesehen. Wie Actaeon und Titian ist mir nie ein knuddeliger Hirsch begegnet.
Beatrix Potter (Peter Rabbit) – eine Schriftstellerin, die jeder Nostalgie wert ist – war herrlich unsentimental und nüchtern. In ihrer Welt wurden gefangene Kaninchen aufgegessen (in Pies), und unvorsichtige Enten lebten auch nicht glücklich und zufrieden bis an ihr glückliches Ende. 
Ich glaube, Hunwickes 13. Gesetz lautet wohl: Je verdorbener eine Epoche ist, desto kitschiger und sentimentaler kommt sie auch daher.
Denken Sie nur daran, wie rührselig die Gentle Giants von Harfang wurden je näher
das Herbstfest heranrückte.

P.S.
Ist eigentlich im Amerika des armen Herrn Biden die herkömmliche Vorstellung verschwunden, 
daß ein Mann mit Geweih für einen betrogenen Ehemann steht? Ist "Gus“ immer noch die Verkleinerungsform für Augustus? War Augustus Caii Filius ein betrogener Ehemann. Entgehen 
mir schlichtem übernostalgischem Europäer hier einige seltene, aber vergnügliche transatlantische Anspielungen?"

Quelle: liturgicalnotes. fr. J.Hunwicke. Übersetzung M. Charlier/summorum pontificum


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