"Ratzinger hat sich nicht ins Privatleben zurückgezogen. Warum wir also zwei Päpste haben."
Unter diesem Titel hat Vittorio Messori, Vaticanist des Corriere della Sera, am 28. Mai einen sehr interessanten Artikel geschrieben: hier geht´s zum Original klicken
"Von niemandem vorhergesehen, mit leiser Stimme in lateinischer Sprache vorgetragen, gingen diese Worte, die wie ein Peitschenhieb waren, innerhalb von Minuten um die Welt. Und das auch in Ländern ohne katholische oder sogar christliche Mehrheit, in denen man aber sofort die historische Tragweite dieses Ereignisses verstand. Man vergesse nicht, daß, auch wenn man nur die Worte des Protestanten Obama, des Orthodoxen Putins, des Anglikaners Cameron nimmt, der römische Pontifex heute die höchste moralische Instanz des Planeten ist.
Kehren wir zu jenem 11. Februar zurück, dem Tag der Erscheinung Unserer lieben Frau von Lourdes. Wer die katholische Welt kennt, weiß, daß sie sich immer noch fragt und mit dieser Entscheidung kämpft.
Es scheint 2 Lager zu geben:
Auf der einen Seite die Wächter der Tradition, für die der Amtsverzicht (nicht die Demission, weil es auf der Welt niemanden gibt, bei dem der Papst sie einreichen könnte), obwohl sie vom Kanonischen Recht vorgesehen ist, eine Art Abfall darstellte, als ob Benedikt XVI sein Amt als das eines multinationalen oder nationalen Präsidenten sehe. Und deshalb habe er sich ins Privatleben zurückziehen müssen- aus Altersgründen und Effizienzerwägungen- im Gegensatz zur langen öffentlichen Agonie, die Johannes Paul II gewählt hatte.
Auf der anderen Seite das andere Lager derer, die sich freuten: der Verzicht sei das Ende der Sakralität des Papstamtes, der mystischen Aura um seine Person und deshalb die Anpassung des Amtes des Bischofs von Rom an die Normen, die für alle Bischöfe gelten, wie Paul VI sie wollte. Das heißt mit Vollendung des 75. Lebensjahres auf das Amt des Bischofs, die Leitung seiner Diözese und Aufgaben in der Kurie zu verzichten.
Beiden Interpretationen gemeinsam bleiben Fragen, auf die es bisher noch keine passenden Antworten gab:
warum sich nicht- wie es die Civilta Cattolica vorschlug- Bischof emeritus von Rom nennen- wohl aber Papa emeritus? Warum nicht auf den weißen Habit verzichten, wohl aber die Mozetta und den Fischerring, als Zeichen der Amtsautorität? Warum sich nicht in die Stille der Klausur eines Klosters zurückziehen und statt dessen innerhalb des Vaticans bleiben, nahe bei Sankt Peter, sich dem Nachfolger gegenüber stellen- wenn auch privat- Gäste empfangen und an Heiligsprechungszeremonien teilnehmen, wie gerade für Roncalli und Wojtyla?
Ich gestehe, daß auch ich mich das gefragt habe und ratlos blieb.
Jetzt gibt es eine Antwort. Sie kommt aus einer Studie von Professor Stefano Violi, dem geschätzten Dozenten für Kanonisches Recht an den Theologischen Fakultäten von Bologna und von Lugano
Es lohnt sich, die dichten Seiten zu lesen, weil sich mit der Entscheidung Benedikts XVI für die Kirche ganz unbekannte Szenarien ergeben haben, unter ihnen auch einige verblüffende.
Es ist vorhersehbar, daß die Schlüsse, die Professor Violi zieht, eine Debatte unter seinen Kollegen auslösen wird, bedenkt man, daß dieser Spezialist für Kanonisches Recht behauptet, daß der Akt Ratzingers etwas ganz Neues sei und daß wir jetzt zwei lebende Päpste haben.
Auch wenn einer der beiden, um es etwas simpel aber dennoch richtig auszudrücken, sich "halbiert" hat.
Um zu verstehen, muß man sich insbesondere von der Manie, hinter allem verborgene Beweggründe zu suchen und von den delirierenden Verschwörungstheorien befreien und Benedetto ernst nehmen, der vom wachsenden Gewicht des Alterns als erstem und einzigen Motiv für seine Entscheidung gesprochen hat: "In diesen letzten Monaten habe ich gefühlt, daß meine Kräfte schwanden....meine physischen und intellektuellen Ressourcen reichen wegen des fortgeschrittenen Alters nicht mehr aus, das Amt auf adäquate Weise auszuüben...."
Studiert man aber das hochkontrollierte Latein, mit dem J.Ratzinger seine Entscheidung begleitete, entdeckt das Auge des Kanonikers, daß es sehr wohl über die wenigen historischen Präzedenzfälle und die vom kanonischen Recht im aktuellen Codex der Kirche für den Verzicht vorgesehenen Regularien hinausgeht.
Das heißt: man entdeckt, daß Benedikt XVI nicht auf die Aufgaben und den Dienst des "munus petrinus" verzichten wollte, das Christus selber dem Ersten der Apostel zuerkannte und das dessen Nachfolgern weitervererbt wurde. Er wollte nur auf die Amtsausübung (executio) verzichten, das heißt auf die konkrete amtliche Administration.
In der Formulierung Benedettos findet sich die Unterscheidung zwischen "Munus" dem päpstlichen Dienst und "Executio" der aktiven Ausübung des Amtes.
Die Executio aber ist eine doppelte: da ist der Aspekt des handelnden, sprechenden, arbeitenden und lehrenden Regierens. Aber es gibt auch den nicht weniger wichtigen spirituellen Aspekt, der betend und leidend ausgeübt wird. Und das ist es, was hinter den Worten Benedikts steht:
"ich kehre nicht ins Privatleben zurück...ich trage nicht mehr die Macht der Leitung der Kirche, aber für das Wohl der Kirche und im Gebetsdienst bleibe ich im Bereich des Petersdoms" wobei "Bereich" nicht nur einen geographischen Raum meint sondern auch einen theologischen.
Das ist also der Grund für die neuartige und unerwartete Entscheidung, sich " Papa emeritus" zu nennen.
Ein Bischof bleibt ein Bischof, auch wenn Alter oder Krankheit ihn zwingen, die Leitung seiner Diözese abzugeben und sich zurückzuziehen, um für sie zu beten. Umso mehr der Bischof von Rom, dem der "munus" das Amt und die Aufgabe des Petrus, ein für alle mal und für alle Ewigkeit vom Heiligen Geist übergeben wird, der sich der Kardinäle im Konklave als Instrument bedient. Deshalb auch die Entscheidung, das weiße Gewand nicht aufzugeben, wohl aber die Zeichen des aktiven Regierens. Deshalb die Entscheidung in der Nähe der Reliquien des Apostelfürsten zu bleiben, die in der großen Basilika verehrt werden.
Um es mit Professor Violi zu sagen: "Benedikt XVI hat alle Regierungs- und Kommandogewalt hinter sich gelassen, ohne den Dienst an der Kirche aufgegeben zu haben: dieser geht weiter, indem er die spirituelle Dimension des munus pontificale, das ihm anvertraut wurde, vermittelt. Darauf wollte er nicht verzichten. Er ist nicht von der Aufgabe zurückgetreten, die unwiderruflich ist, wohl aber von der konkreten Ausübung des Amtes."
Vielleicht liebt es Papst Franziskus deshalb auch nicht, sich als Papst zu definieren, weil er sich bewußt ist, das Amt, den munus pontificale, besonders was seine spirituelle Dimension betrifft, mit Benedetto zu teilen?
Was er dagegen komplett von Benedetto geerbt hat, ist das Amt des Bischofs von Rom. Und was ist deshalb seine bevorzugte Selbstdefinition seit dem ersten Augenblick des Grußes an das Volk nach der Wahl?
Viele,davon überrascht, fragten sich, warum er bei einer so feierlichen Gelegenheit, vor den Kameras der ganzen Welt, kein einziges mal die Worte Papst oder Pontifex gebrauchte und von sich nur als Nachfolger des Römischen Bischofs sprach.
Zum ersten mal hätte die Kirche also 2 Päpste, einen regierenden und einen emeritierten? Es sieht so aus, als sei das die Absicht Benedikts mit diesem nur auf den aktiven Dienst bezogenen Verzicht gewesen, mit diesem "feierlichen Akt seines Magisteriums", um es mit dem Kanoniker zu sagen.
Wenn es so ist, umso besser für die Kirche. Ein Geschenk für uns: der eine auch physisch an der Seite des anderen, der eine, der lenkt und lehrt und der andere, der für alle, aber besonders für seinen Mitbruder im täglichen päpstlichen Amt betet und leidet ."
Quelle Sismographo, Corriere della Sera, Vittorio Messori
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