Freitag, 3. Juni 2022

Ein argentinischer Prälat kritisiert den Papst mit deutlichen Worten

Rorate Caeli veröffentlicht den Artikel, den der emeritierte Erzbischof von La Plata Hector Aguer über die Probleme der argentinischen Kirche -speziell nach "Amoris Laetitia" und "Traditionis Custodes" - verfaßt hat. Diese Probleme spiegeln auch die Situation der Kirchen in Europa wieder.
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"ERZBISCHOF AGUER - "KASUISTIK ODER UMSICHT?" 

Die politischen und sozialen Probleme Argentiniens vervielfachen sich und verursachen Besorgnis und Angst; sie würden Argumente für eine lange Darstellung liefern. Ich beschäftige mich jedoch lieber mit einem kirchlichen Thema, das meines Erachtens eindeutig geklärt werden muss.

In einem von InfoCatólica veröffentlichten  Text habe ich die sehr klare Lehre des Neuen Testaments (insbesondere der Paulusbriefe) über das sichere Fundament, auf dem der Glaube aufbaut, den offiziell geförderten Tendenzen gegenüber gestellt, die dieses Fundament verwerfen, als wäre es ein ängstliches Rückschritt angesichts von Entwicklungen, die zur Annahme neuer Paradigmen geführt haben. Das Hauptdiskussionsgebiet ist die Moraltheologie. Die Formel der einheitlichen Entwicklung von Lehre und kirchlichen Institutionen wurde bereits im fünften Jahrhundert vom gallo-römischen Mönch und Kirchenvater St. Vinzenz von Lérins dargelegt. Er beschreibt die wahrhaft katholische Entwicklungsweise, indem er sagt, sie vollziehe sich in eodem scilicet dogmate, eodem sensu, eademque sententia. Diese Formulierung soll den Sinn, das bereits getroffene Urteil nicht verraten. Vincent bekräftigt in seinem Commonitorium, daß Sprachneuheiten den Häretikern eigen sind, nicht den Katholiken: Sie brechen die Treue zur Orthodoxie, indem sie unter einer neuen Ausdrucksweise (nove) Änderungen des Konzepts und Verfälschungen verbergen, die die Glaubenslehre verletzen (nova ).

Auf dem Gebiet der Moraltheologie sind einige Autoren einer Leugnung oder zumindest einem Übergehen des Naturgesetzes und der von Jesus aufgenommenen und erweiterten Vorschriften der hebräischen Tora, wie sie deutlich im Evangelium zum Ausdruck kommen, verfallen; außerdem wird der metaphysische Wert des Naturbegriffs von ihnen nicht mehr akzeptiert. Das ist in Strömungen passiert, die von einem angeblichen "Geist des Konzils“ unterstützt wurden, der sich zum ernsthaften Nachteil der Ausbildung in katholischen Semina"Geist des Konzils“ an, ein Kunstgriff, der vorgibt, die authentische Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils zu sein, und der alle theologischen und pastoralen Deformationen verteidigt hat, die in der nachkonziliaren Zeit entstanden sind, die dazu tendieren alte Fehler " zu entstauben“. Romano Amerio sagt in seinem Buch über die Veränderungen in der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert mit dem Titel Iota Unum zu Recht: "Die Berufung auf den Geist des Konzils ist ein zweideutiges Argument und fast ein Vorwand, um dem Konzil den richtigen Geist der Innovation hinzuzufügen."

Johannes Paul II und Benedikt XVI haben wiederholt die Linien der christlichen Ethik und der Katholischen Theologie zum menschlichen Leben gemäß Gottes Plan dargelegt; die gleiche Inspiration findet sich im dritten Teil des Katechismus der Katholischen Kirche. Dieses Werk steht für eine sehr breite Tradition, die ihren Ursprung bei den Kirchenvätern und dem Hl. Thomas von Aquin hat.


Das Missverständnis, das derzeit mit dem Gewicht der Autorität verbreitet wird, besteht darin, eine Opposition gegen die Ansätze des kirchlichen Progressivismus in der Moraltheologie als "rigoristische Kasuistik“ zu disqualifizieren; insbesondere in dem, was sich auf das Sexualverhalten von geschiedenen oder getrennt lebenden Personen bezieht, die eine "zweite Partnerschaft“ eingegangen sind. Im Mittelpunkt der Diskussion stand damals der Text des Apostolischen Schreibens Amoris laetitia und insbesondere der berühmte Hinweis auf die mögliche Zulassung zu den Sakramenten für diejenigen, die nach der traditionellen Lehre der Kirche die objektiv erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllen. Die Bitten um Klarstellung (die von den Kardinälen Cafarra, Burke, Brandmüller und Meisner vorgelegte Dubia) wurden nicht berücksichtigt und erhielten keine Antwort.

Die Kasuistik kann in Wirklichkeit rigoristisch oder nachgiebig sein; das Problem liegt nicht im Adjektiv, sondern im Namen selbst, der eine Strömung bezeichnet, die vor allem von Autoren der Gesellschaft Jesu entwickelt wurde. Die berühmte Fußnote von Amoris Laetitia kann als typischer Fall laxistischer Kasuistik betrachtet werden, ganz im Gegensatz zu einer thomistisch inspirierten Behandlung des Themas.

Die Summa Theologica des Doctor Angelicus bietet im ersten Abschnitt des zweiten Teils (Prima Secundae) eine originelle und exakte Konzeption der Moraltheologie an, in deren Mittelpunkt die lebenswichtige Weisheit der Klugheit steht, die das Gegenteil jeder Art von Kasuistik ist. Die Entwicklungen der Secunda Secundae über die Sünden im Zusammenhang mit dem Sexualleben stellen eine ausgewogene Anwendung dieser Grundsätze dar und sind Teil einer katechetischen Darlegung geworden, die in der gewöhnlichen Predigt und Lehre ausführlich angeboten wird. Jeder Katholik wusste, was er in diesen Angelegenheiten zu erwarten hat. Die später aufkommende Kasuistik, im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rigoristisch inspiriert, heute eher laxistisch, ist das Gegenteil der Moral des Thomas von Aquin. Meiner Meinung nach, und respektvoll gesagt, kann Amoris Laetitia nicht als ein Dokument bezeichnet werden, das das thomistische Denken klar widerspiegelt.

Wie ich bereits geschrieben habe, sind die häufigen Angriffe auf die heitere Glaubensgewissheit und die davon inspirierte Weltanschauung zu bedauern. Traditionelle Positionen haben einen unbestreitbaren pastoralen Wert: warum sollten sie aufgegeben werden, um sich den Vorschlägen einer allgemein entchristlichten Kultur anzuschließen, im Gegensatz zu dem, was in den Briefen des Heiligen Paulus zum Ausdruck kommt? Der Apostel sah mit Besorgnis, wie die heidnische Kultur in die christlichen Gemeinschaften eingedrungen war und das Verhalten des von Christus erlösten "neuen Menschen“ verdarb. In ähnlicher Weise versucht heute eine der Tradition widersprechende Kasuistik "neue Paradigmen“ durchzusetzen, die den Postulaten der Neuen Weltordnung entsprechen, in der die christliche Moral nach den exakten thomistischen Formulierungen keinen Platz hat. Das Wiederauftauchen einer recycelten und autoritären Kasuistik stellt eine Gefahr der Desinformation über die Wahrheit dar, mit der daraus resultierenden Deformierung des christlichen Lebens.

Ich habe den Eindruck, daß junge Gläubige, die der Kasuistik nicht ausgesetzt waren, die Gefahr als erste bemerken und sich davor hüten. Diese Tatsache, die ich mit Genugtuung zur Kenntnis nehme (wobei man anerkennen muss, daß wir es mit einer Minderheit zu tun haben), lässt uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Die Kirche kann nicht in dem Konflikt, den ich oben beschrieben habe, gefangen bleiben – denn der ist tatsächlich eine Falle des Vaters der Lüge (vgl. Joh 8,44). Dank denen, die die fälschlicherweise mit dem Gewicht der Autorität verbreiteten ansprechenden Parolen nicht akzeptieren, können wir hoffen, daß die Kirche reagiert und sich erhellend für die Rettung dieser fehlgeleiteten Welt einsetzt. Das Phänomen, das ich aufzeige, spielt sich in verschiedenen kirchlichen Bereichen ab.

In drei Artikeln mit dem Titel "Krieg und Frieden“ habe ich einige der kritischen Reaktionen auf das motu proprio Traditionis Custodes des Papstes zusammengefasst, die Dr. Peter Kwasnievski in seinem Buch "From Benedict’s Peace to Francis’ War" zusammengetragen hat. Das päpstliche Eingreifen zielte darauf ab, die außerordentliche Form des Römischen Ritus abzuschaffen, die Benedikt XVI. 2007 durch sein Motu Proprio Summorum Pontificum wiederhergestellt hatte. Benedikt XVI. hat der durch die Säkularisierung zerrissenen Kirche einen großen Dienst erwiesen. Diese Tragödie stellt ein Abgleiten aus dem Ordo Missae von Paul VI. dar, inspiriert vom immanentistischen Humanismus, einer Bewegung, die sich in der nachkonziliaren Zeit ausgebreitet hat.

An dieser Stelle sei daran erinnert, daß mehr als hundert Persönlichkeiten aus aller Welt 1971 mit einem Memorandum erklärten, daß die Kirche eine sehr schwere Verantwortung vor der Geschichte des menschlichen Geistes übernehmen würde, wenn sie nicht wenigstens der traditionelle Messe zugestehe zu gleichen Bedingungen zu bestehen. Unter den Unterzeichnern waren Jorge Luis Borges, Marcel Brión, Agatha Christie, Augusto Del Noce, Henri de Montherlant, Graham Green, Julien Green, Yehudi Menuhim, Maruis Schneider, Malcom Mudderidge, Robert Graves, Bernard Wall.

Es sind überwiegend junge Menschen, die sich entschieden haben, Gott zu verehren, indem sie an der "Messe aller Zeiten" teilnehmen, ohne Rücksicht auf den Ukas des derzeitigen Nachfolgers Petri zu nehmen. Sie haben dies ohne einen Geist des Aufruhrs getan, geleitet nicht nur von der Benediktinischen Erlaubnis, sondern auch von der Konstitution Sacrosanctum Concilium des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Geste der Gläubigen, die es vorziehen, dem Heiligen Messopfer beizuwohnen, das nach dem Messbuch von Johannes XXIII. von 1962 gefeiert wird, ist ein Zeichen dafür, daß die vom Herrn in seiner Kirche eingesetzte Autorität keine absolutistische Macht ist, sondern im Dienst des Volkes Gottes steht, in Kontinuität mit der großen kirchlichen Tradition und nicht gegen sie. Diese Gläubigen – ich bestehe darauf: besonders junge Menschen – fordern leise, daß der Tradition nicht unter einem kasuistischen Deckmantel widersprochen wird. Sie appellieren an das Gericht Gottes. Ich erinnere daran, daß Muslime oft sagen: "Gott ist groß.“ Das ist er in der Tat, der Eine und Dreieinige Gott."
 
+ Hector Aguer
Erzbischo Emeritus von La Plata

Quelle: Rorate Caeli, EB em. H. Aguer

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