In der Perspektive des heiligen Thomas – der von Fernández reichlich zitiert wird – »ordnet die Liebe die Handlungen aller anderen Tugenden bis zum letzten Ende, so daß sie auf diese Weise den Handlungen aller anderen Tugenden Gestalt verleiht. Und in diesem Sinne sagt man, daß es die Form der anderen Tugenden ist" (II-II, q. 23, a. 8). Es besteht also eine substantielle Harmonie zwischen den sittlichen Tugenden und der Nächstenliebe, die der Harmonie zwischen zwei Gütern entspricht: einem unmittelbaren Gut (dem der sittlichen Tugenden) und einem letzten Gut, zu dem die Nächstenliebe führt, indem sie die Tugenden lehrt.
Aquinas erklärt, daß die Liebe das höchste und wichtigste Gut des Menschen befiehlt, das heißt die Frucht Gottes, und in diesem Sinne ist keine Tugend eine solche ohne die Liebe, weil sie nicht in der Lage ist, das höchste Gut zu erreichen. Betrachtet man dagegen die Tugenden nur in Bezug auf ihr besonderes Ziel, so ist es klar, daß sie wahre Tugenden sind, insofern sie auf dieses besondere Gut ausgerichtet sind, aber unvollkommen, wenn sie nicht durch die Liebe gebildet werden. "Wenn", fährt Thomas fort, "dieses besondere Gut nicht wahr, sondern offensichtlich ist, dann wird die Tugend, die ihm entspricht, keine wahre Tugend sein, sondern ein falsches Bild davon." Und was unterscheidet ein wahres Gut von einem bloß scheinbaren Gut? Die Tatsache, dass das erste "an sich dem Hauptgut, das das letzte Ziel ist, geordnet ist", während das zweite "sich vom letzten Gut entfernt" (II-II, q. 23, a. 7). Fernández vergisst ein Detail: Für den hl. Thomas, wie für die gesamte Morallehre der Kirche, gibt es "scheinbare Güter", die niemals zur Vereinigung mit Gott geordnet werden können, sondern sie eher von ihm entfernen. Fernández hingegen bekräftigt, dass die Ausführung moralischer Handlungen, die uns ihrem Wesen nach von Gott entfernen, in Wirklichkeit ein Werk jener Nächstenliebe wäre, die Gott mit Gott verbindet. Ein Kurzschluss.
Die von ihm beschworene »Hierarchie der Tugenden« zerstört in Wirklichkeit die Tugenden und die Nächstenliebe selbst. Unter Berufung auf Familiaris Consortio (FC), 34, verwandelt Fernández in der Tat die an sich bösen Taten in Zwischenstufen, die "auf die volle Erfüllung der Norm ausgerichtet sind" (S. 159). Er vergißt jedoch, daß das pädagogische Gesetz der Allmählichkeit auf der Nicht-Stufenlosigkeit des Gesetzes beruht, d.h. auf moralischen Absolutheiten; Es ist in der Tat eine allmähliche Anstrengung, Gutes zu tun oder wenigstens danach zu streben. Dies ist die Perspektive von FC, 34: "[Die Eheleute] können das Gesetz nicht nur als ein reines Ideal betrachten, das in der Zukunft verwirklicht werden soll, sondern müssen es als ein Gebot Christi, des Herrn, betrachten, Schwierigkeiten durch Engagement zu überwinden. Daher kann das sogenannte "Gesetz der Gradualität" oder der graduelle Pfad nicht mit der "Gradualität des Gesetzes" identifiziert werden, als ob es im göttlichen Gesetz verschiedene Grade und verschiedene Formen von Geboten für verschiedene Menschen und Situationen gäbe. Und es ist kein Zufall, daß das Apostolische Schreiben als Teil dieser Pädagogik darauf hinweist, "daß die Eheleute vor allem die Lehre von Humanae vitae als normativ für die Ausübung ihrer Sexualität klar anerkennen".
Fernández erinnert sowohl an den Hl. Thomas als auch an den FC, um sie dazu zu bringen, das Gegenteil zu sagen. In der Tat schreibt er, daß, auch wenn eine Handlung objektiv nicht der Norm entspricht, wenn die Person "wirklich aus sich selbst herausgeht und in einer Dynamik aufrichtiger und großherziger Liebe auf den anderen zugeht, dieser Akt den Menschen wirklich erbauen, sein inneres Wachstum provozieren und ihn vor Neigungen zur Selbstbezogenheit oder Isolation bewahren kann. So paradox es auch erscheinen mag, der Akt übt folglich eine positive Funktion in der moralischen Entwicklung des Subjekts aus, indem er verhindert, dass sich sein Begehren in sich selbst verwandelt. Obwohl es objektiv dem Sittengesetz widerspricht, ist es Teil einer Wachstumsphase dieses historischen Subjekts, die Tag für Tag aufgebaut wird" (S. 159).
Fernández zeigt damit, dass er weder das Verhältnis zwischen moralischen Tugenden und Nächstenliebe noch die Nächstenliebe selbst versteht, die hier zu einem altruistischen Gefühl herabgestuft wird, das es sogar erlaubt und notwendig machen würde, Böses zu tun; Dies sei seiner Meinung nach der einzige Weg, um das Primat der goldenen Regel zu wahren. Die Barmherzigkeit, die der argentinische Theologe so anfleht, ist in Wirklichkeit eine scheinbare menschliche Barmherzigkeit, die alle darauf bedacht sind, »den Gläubigen kein bleibendes Kreuz aufzubürden« (S. 156). Wieder einmal zitiert er den hl. Thomas falsch: »Indem er den Inhalt des neuen Gesetzes der Freiheit erklärt, betont er, daß es nur sehr wenige Gebote gibt, die Christus und die Apostel aufgestellt haben.« Der heilige Thomas erklärte tatsächlich, dass das neue Gesetz im Vergleich zum alten Gesetz, das "eine größere Anzahl äußerer Handlungen in den vielen Zeremonien verpflichtete", "sehr wenig" hinzufügt, aber - fügt Thomas hinzu - "zu den Geboten des natürlichen Sittengesetzes" (I-II, q. 107, a. 4)! Fernández hingegen verzerrt auf diese Weise das Naturgesetz selbst und erfindet ein moralisches Leben, in dem der Primat der Nächstenliebe das Sittengesetz zerstören und ein widersprüchliches moralisches Handeln umsetzen kann, in dem eine Handlung, die uns moralisch schlecht macht, uns in der Nächstenliebe wachsen lassen würde.
Auf der anderen Seite bleibt die Lehre von Veritatis splendor, 72, wahr, wonach "die Moral der Handlungen durch das Verhältnis der Freiheit des Menschen zum wahren Gut bestimmt wird. Dieses Gut wird als ewiges Gesetz von der Weisheit Gottes eingesetzt, die jedes Wesen bis zu seinem Ende ordnet". Das ist der Grund, warum »das Handeln sittlich gut ist, wenn die Entscheidungen der Freiheit mit dem wahren Wohl des Menschen übereinstimmen und so die freiwillige Weisung der Person zu ihrem letzten Ziel, das heißt zu Gott selbst, zum Ausdruck bringen«. Im Gegenteil: »Wenn der Gegenstand des konkreten Handelns nicht mit dem wahren Wohl der Person übereinstimmt, macht die Wahl dieses Handelns unseren Willen und uns selbst sittlich böse und stellt uns daher in Gegensatz zu unserem letzten Ziel, dem höchsten Gut, das heißt Gott selbst«.
Fernández' Lösung widerspricht den Grundlagen des moralischen Handelns und ermutigt im Namen eines missverstandenen Primats der Nächstenliebe zu Entscheidungen, die zum Verlust unseres Endziels führen."
Quelle: N.Spuntoni, LNBQ
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