"Ein weiteres Ergebnis von Pascal ist die Erkenntnis, daß es nicht möglich ist, die Gewinnchancen zu berechnen, ohne zuerst die Verlustchancen zu berechnen. Auch existentiell müssen wir Ungewissheit, die Wahrscheinlichkeit des Verlierens voll und ganz akzeptieren, wenn wir die Hoffnung auf den Sieg kultivieren wollen. Wahrscheinlichkeit ist die Wissenschaft, die wissenschaftliche Methode, die Ungewissheit akzeptiert. In einer immer komplexer werdenden Welt, in der das Territorium des Wahrscheinlichen viel umfangreicher ist als das des Sicheren wie auch das des Unmöglichen, ist die Wahrscheinlichkeit die effektivste und unverzichtbarste Methode, die einzige, die zu vollständigen und konsistenten Ergebnissen führt.
Um auf die Frage nach Gott zurückzukommen, geht Pascal von zwei Annahmen aus. Die Existenz oder Nichtexistenz Gottes kann nicht durch menschliche Vernunft bewiesen werden, [doch] durch die bloße Tatsache des Lebens ist der Mensch gezwungen, zu wählen zwischen einem Leben, als ob Gott existierte, und einem Leben, als ob er nicht existierte. Dies gilt auch, wenn er glaubt, nicht gewählt zu haben, denn zu glauben, daß man nicht gewählt hat, ist gleichbedeutend mit der Entscheidung, nicht zu glauben. Ebenso laut Pascal muss man auf die Existenz Gottes wetten, denn die Auszahlung des Gewinnens ist eine Unendlichkeit des gesegneten Lebens, während das Verlieren einem nichts raubt. Diese letzte Aussage wurde heftig kritisiert, aber nach Volpis Ansicht urteilt Pascal, daß es "nach dem Maßstab seiner moralischen Vorstellungen, seines Gewissens“ nichts zu verlieren gibt.
Sehen wir uns nun an, wie Volpi Pascals Wette aktualisiert. Die erste und grundlegende Ungewissheit betrifft die Frage: Wie ist unser Universum entstanden? Um dies zu beantworten, kommt man nicht umhin, vom Urknall auszugehen, aber die andere Frage stellt sich sofort: wie wurde der Urknall asugelöst? Darüber wissen und werden wir nichts wissenschaftlich Überprüfbares wissen, wir können nur Hypothesen, Vermutungen formulieren.
Derzeit ist die Quantenhypothese am wenigsten unwahrscheinlich, aber es gibt noch andere, und alle werden für immer nur Hypothesen bleiben. Zusätzlich zu diesen gibt es das, was wir "die Gotteshypothese“ nennen können, die sicherlich jenseits der Wissenschaft ist, oder vielmehr noch weiter von der Wissenschaft entfernt, weil man über die Quantenhypothese und die anderen wissenschaftliche Theorien, Vermutungen und Bewertungen formulieren kann, zur Gott-Hypothese kann man das nicht.
Deshalb schließt die große Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Gotteshypothese aus, aber Volpi stellt fest, daß dies die Angelegenheit nicht regelt. Wenn wir darüber nachdenken, was vor dem Urknall war, müssen wir uns tatsächlich auf das Terrain der Wahrscheinlichkeit begeben; Sowohl die Quantenhypothese (und die anderen wissenschaftlicher Natur) als auch die Gotteshypothese können nur in probabilistischen Begriffen bewertet werden, mit den Werkzeugen, die die Wahrscheinlichkeitswissenschaft bietet.
Darüber hinaus ist aus dieser Sicht die Gotteshypothese eindeutig vorzuziehen, da sie in sich vollständig definiert ist und nicht mit Unterhypothesen verknüpft werden muss, während die Quantenhypothese viele Unterhypothesen benötigt, von denen jede einzelne höchst unwahrscheinlich ist.
In Wirklichkeit wird es jedoch nie möglich sein zu wissen, welche der beiden Hypothesen die Gewinnerin ist, da beide nicht verifizierbar sind. Es ist also keine Wette möglich. Oder besser gesagt, schließt Volpi, daß eine Wette immer gemacht werden kann, und es ist die von Pascal, einem Wettanbieter, dessen Buchmacher und Richter unser Gewissen ist: viel auf moralischer Ebene, nichts auf wissenschaftlicher Ebene.
Dann kehrt die Diskussion zu Joseph Ratzinger zurück, der behauptet, er könne nicht die Existenz, aber die „Vernunft“ Gottes beweisen. Ratzinger hat die Intelligenz, die Debatte zu verschieben: Die Vernunft Gottes ist etwas, über das jeder diskutieren kann, auch ohne Glauben, weil sie sich im Lauf der Geschichte manifestiert. Tatsächlich bricht, sobald der Gottesbegriff in Gang kommt, der ungeheure Gepäckhaufen der polytheistischen Gründungsmythen wie ein Kartenhaus zusammen: sie werden widerlegt durch die Einfachheit und Rationalität des biblischen Schöpfungsberichts, der die Welt und den Menschen zurückbringt zur Vernunft und zum Wort Gottes. Das ist die entscheidende "Aufklärung“ der Geschichte, die die Welt unserer Vernunft überantwortet und diese Vernunft in der schöpferischen Vernunft Gottes verankert.
Volpi schließt mit der Feststellung, daß, seit Ratzinger den Stuhl Petri verlassen hat, der Ruf nach der Vernunft Gottes verblasst ist und seine Kraft in der Kirche verloren hat. Aber vielleicht liegt gerade in diesem Aufruf etwas, das die Drehbücher des ewigen Spiels zwischen Gläubigen und Ungläubigen in Frage stellen und den Kreis derer erweitern kann, die mit Respekt und Rücksicht auf das "Heilige“ blicken, ohne aus diesem Grund das "Weltliche“ zu verleugnen."
Ich persönlich kann diese Diskussionen nur bewundern. Sie verbinden wissenschaftliche Strenge mit großer Weltoffenheit und zeigen eine deutliche Affinität zum christlichen Umgang mit der Gottesfrage, wie er heute von Joseph Ratzinger vermittelt wird. Dazu bedienen sie sich der derzeit eher der wichtigen Wahrscheinlichkeitslogik mit einem substanziellen Update gegenüber Pascal.
In diesem Sinne schlage ich einige Überlegungen zur Gottesfrage vor. Für Volpi wie für Pascal kann die Gotteshypothese oder einfacher die Existenz Gottes nicht durch unsere Vernunft bewiesen werden. Dies gilt sicherlich, solange es um Wissenschaft geht, um wissenschaftliches Denken. Beziehen wir uns dagegen auf andere Verwendungen der Vernunft, etwa auf das philosophische Denken, und vor allem auf die Vernunft tout court, also jene Erkenntnisfähigkeit, die uns von anderen Tieren unterscheidet, ist die Sache nicht mehr so friedlich: im Gegenteil, sie war und ist Gegenstand einer großen Debatte. Die Kirche selbst, insbesondere beim I. Vatikanischen Konzil von 1870 und dann auch beim II. Vatikanischen Konzil, hat bekräftigt, daß Gott "durch das natürliche Licht der menschlichen Vernunft auf der Grundlage der geschaffenen Dinge mit Sicherheit erkannt werden kann“. Mehr noch- daran dachte der Hl. Paulus im Brief an die Römer zurück.
Es wäre jedoch zutiefst falsch, hier einen kompletten Gegensatz zu sehen. Tatsächlich wird in diesen Konzilen präzisiert, daß im gegenwärtigen Zustand der Menschheit die Vernunft nicht ausreicht, sondern göttliche Offenbarung erforderlich ist, damit die Existenz Gottes von allen mit fester Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtümern erkannt werden kann. In Wirklichkeit können wir Gott nicht als ein Objekt unter anderen behandeln, als etwas, das wir mit unserer Vernunft beherrschen können.
Die Gewissheit über Gott unterscheidet sich grundlegend von jeder Gewissheit über die Welt: Um sie zu erlangen, müssen wir uns selbst aufs Spiel setzen, nicht nur unsere Vernunft, sondern auch unsere Freiheit und unsere Entscheidungen im Leben. Es ist eine rationale, aber auch freie Gewissheit, für die es entscheidend ist, eine Haltung des "demütigen Zuhörens“ einzunehmen, wie Joseph Ratzinger betont hat. Eine Gewissheit, sage ich als Gläubiger, durch die Gott in uns wirkt.
Immer noch Ratzinger folgend, halte ich Pascals zweite Annahme für gültig, nämlich daß wir gezwungen sind, zu wählen zwischen einem Leben, als ob Gott existiert, und einem Leben, als ob es ihn nicht gäbe. Agnostizismus kann zwar theoretisch unterstützt werden, aber in der Praxis gibt es so etwas, wenn es um Gott geht, wie eine neutrale Zone aus dem bereits von Pascal angenommenen Grund nicht.
Bisher haben wir uns mit der Frage nach Gott beschäftigt, nun schauen wir uns an, wie Roberto Volpi die andere große Frage, die nach dem Menschen, beantwortet…"
Wird bei Settimo Cielo fortgesetzt....
Quelle: S. Magister, Settimo Cielo
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