FirstThings veröffentlicht einen Beitrag von Kardinal Gerhard Müller über die Beziehung des damaligen Kardinals Ratzinger zur Befreiungstheologie und den Befreiungstheologen.
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"RATZINGER UND DIE BEFREIUNGSTHEOLOGEN"
Das Vermächtnis von Joseph Ratrzinger ruht nicht auf der Institution des "Papa emeritus", deren Pionier er war. Das Große Vermächtnis des Theologie-Professors, des Kardinal-Präfekten der Glaubenskongregation und von Papst Benedikt XVI ist stattdessen sein theologisches Werk, das charakteristischerweise auf der Einheit von Glaube und Vernunft besteht- einer Einheit, die sein Gesprächspartner, der Theoriekritiker Jürgen Habermas als Essenz der Westlichen Kultur anerkannte. Ratzinger hat bei der Problematisierung des Christentums durch die modernen Wissenschaften und ideologischen Systeme nicht nachgegeben.
Soweit Konflikte bestanden, sei das Christentum damit nicht als „unvernünftig“ bewiesen worden; vielmehr war es ein Zeichen dafür, daß die Wissenschaften von ideologischem Einfluss gereinigt und die Ideologien für das Gute und Wahre gesiebt werden mussten.
Im Gegensatz zur Legende war Ratzinger kein simplizistischer FEuind der Moderne. Das Christentum konnte mit vielen der Einsichten des Marxismus, der Psychoanalyse, des Darwinismus und anderer Ideologien zurecht kommen. Aber er war standfest darin, auszuschließen, was sich nicht mit dem Christentum verträgt. Tatsächlich war er ein Vorbild bei diesem Werk, als Kardinal und als Papst. Das vielleicht schlagendste Beispiel dafür war sein Umgang mit den Befreiungstheologen in der Frühzeit seiner Arbeit als Präfekt der Glaubenskongregation.
In den frühen 1980-ern - Ratzinger war gerade von Johannes Paul II zum Präfekten berufen worden-. herrschte inn Latein-Amerika extreme Armut und Ungleichheit, so daß Marxistsiches Denken in diesem Teil der Welt begann Kirchenmänner anzusprechen, gerade als Katholiken in Johannes Pauls Heimatland darum kämpften, das kommunistische Regime zu stürzen. Gustavo Gutiérrez, ein dominikanischer Theologe aus Peru hatte das bahnbrechende "Eine Theologie der Befreiung" (1971) geschrieben, von dem die Befreiungstheologie ihren Namen ableitete.
Nachdem er hörte, daß einige Teile der Befreiungstheologie-Bewegung sich mit mrxistrischen Gruppen verbündeten und eine gewaltsame Revolution forderten, bat Johannes Paul Ratzingers Glaubenskongregation, die Schriften der Befreiungs-Theologen zu prüfen. In diesen Schrifen und in den mit der Bewegung verbundenen "Basis-Kommunen" (örtliche sozialistische Gemeinden) hat Ratzimgrt vieles wahrgenommen, was wirklich christlich war. Aber er fand auch Elemente, die nicht mit dem Christentum zu vereinbaren waren. Er verfaßte 1984 und 1986 zwei Instruktionen zur Befreiungstheologie, in denen er vor "unkritischen Anleihen bei der marxistischen Ideologie" und vor der "Politisierung der Glaubensgrundsätze" warnte. Er traf sich mit Führungspersonen wie Gutiérrez und Leonardo Boff, um ihre Ideen zu diskutieren. Die Untersuchungen der Befreiungstheologie durch den Vatican erlangte die Aufmerksamkeit der Internationalen Presse und konsolidierte Ratzingers Ruf als "Rottweiler Gottes". Boff sprach sensationell über die zermürbende Inquisition, die er in Ratzingers Büro erlitten hatte (eine Episode,in der Ratzinger, der Boffs Lehrerlaubnis hätte widerrufen können, ihm ein Sabbat-Jahr des Schweigens verordnete). Tatsächlich behandelte Ratzinger - im Licht seiner sorgfältigen Schlußfolgerungen aus ihren Schriften- die Befreiungstheologen so sanft wie möglich. Gutiérrez wurde nie zensuriert oder zum Widerruf aufgefordert, wohl aber dazu, einige seiner Positionen zu überdenken. Und dennoch erntete Ratzinger für seine Bemühungen den nie ermüdenden Hass der katholische Progressisten und der Marxisten.
Die Kirche lehnt das Ziel der Befreiung nicht ab. Weil die "Freiheit und die Glorie der Kinder Gottes" (Röm. 8:21) das Ziel und der Grund für Gottes Offenbarung als die Wahrheit und das Leben jedes menschlichen Wesens sind, und jede gute Theologie erklärt dieses Thema. Die Erhöhung des Menschen zur Sohnschaft in Christus und zu Gottes Freundschaft im Heiligen Geist - einschließlich der Befreiung von der Ursünde, persönlichen Sünden und allen Übel in Körper und Seele sind das Motiv für Gottes Rettungstat in der Schöpfung, Erlösung und Vervollkommnung des Menschen, den nach seinem Bild und nach seiner Ähnlichkeit schuf. Die Befreiungstheologie -in ihrer besten Seite- versteht das. Ihre Versuchung besteht aber darin, Befreiung in materialistischen Begriffen zu verstehen, wie das Erreichen perfekter wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen. Es ist bedauerlich, daß viele in der Befreiungstheologie-Bewegung die Christliche Erlösung als marxistische Selbsterlösung mißverstanden.
Die Kirche lehnt auch die Sorge um die materiellen Bedingungen, insbesondere die der Armen, nicht ab. Entgegen dem vulgärmarxistischen Vorwurf, das Christentum kümmere sich nur um Innerlichkeit und das Jenseits und vernachlässige damit diesseitige und materiell-gesellschaftliche Existenz des Menschen, war die Hilfe für die Armen schon Jahrhunderte vor dem Marxismus ein christliches Gebot. Gaudium et spes erklärt, daß die religiöse und die menschliche Mission der Kirche nicht bekämpft werden können. Nur im Lichte Christi, des Gottmenschen, kann die Einheit der universellen Ausrichtung auf Gott und der konkreten Verantwortung des Menschen für Gottes Schöpfung – Natur, Geschichte und Gesellschaft – in der ethisch-sozialen Dimension verstanden und umgesetzt werden. Obwohl Ratzingers Anweisungen zur Befreiungstheologie als Verurteilung aller Bemühungen zugunsten der Armen Lateinamerikas verschrien wurden, hat er tatsächlich der Befreiungstheologie in dem Maße zugestimmt, in dem sie versuchte, den Armen zu helfen."
Fortsetzung folgt...
Quelle: Kard. G.Müller, FirstThings
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