Sonntag, 10. April 2022

Gibt es für die Ukraine einen "dritten Weg" zwischen Widerstand und Kapitulation?

Sandro Magister veröffentlicht bei Settimo Cielo den von Papst-Äußerungen zum Ukraine-Krieg ausgelösten kontroversen Meinungsaustausch zwischen Pietro De Marco und Massimo Borghese- der für die aktuelle Diskussion charakteristisch ist.
Hier geht´s zum Original:  klicken

"ES GIBT KEINEN DRITTEN WEG ZWISCHEN WIDERSTAND UND KAPITULATION." 
Borghesi kritisiert De Marco, der antwortet.

Die Positionen, die Pietro De Marco in seiner letzten Rede über den Krieg in der Ukraine bei Settimo Cielo zum Ausdruck brachte, riefen am 4. April die Kritik von Massimo Borghesi auf "Vita" hervor. 

> Katholiken und Krieg. Den Papst zum Schweigen bringen?

Nach Borghesis Meinung ist bei De Marco wie bei anderen katholischen Intellektuellen "die Begeisterung für den Frieden der Begeisterung für den Krieg gewichen", während stattdessen der Westen "das Feuer nicht schüren, sondern unterdrücken sollte, und dies im Interesse der Ukraine", indem er "einen Kanal mit Russland offen hält" und bewerten sollte, "inwieweit der militärische Widerstand gegen den Eindringling geleistet werden muss".

Aus diesem Grund, so Borghesi, sei auch die jüngste Neuauflage von Emmanuel Mouniers Buch "Christen und Frieden" fehl am Platz. Und das, weil "der Mounier von 1939, der München misstraute und zum gewaltsamen Widerstand gegen Hitlers überwältigende Macht in Europa aufrief, nicht als Interpret der gegenwärtigen Situation herangezogen werden kann. Vor allem kann sie nicht als authentischer Ausdruck des christlichen Realismus gegen den pazifistischen Utopismus von Papst Franziskus herangezogen werden."

Borghesi ist Professor für Moralphilosophie an der Universität Perugia und hat seine letzten beiden Bücher der Recherche über die theologische und philosophische Abstammung von Jorge Mario Bergoglio gewidmet, um – obwohl durch die Fakten widerlegt, wie von Settimo Cielo hervorgehoben – zu behaupten, daß der Schüler auch seinen berühmten Meistern, von Gaston Fessard bis Romano Guardini, von Erich Przywara bis Henri De Lubac gerecht wird..


Hier ist De Marcos Antwort auf Borghesis Kritik. Gefolgt von einem anschließenden Brief von Borghesi an De Marco.

Lieber Massimo,

Meine Antwort ist in dem Artikel, den ich Ihnen beilege, den ich bereits geschrieben hatte,den ich aber ein wenig aktualisiert habe, um ihn besser an Ihre Einwände und viele andere anzupassen. Es scheint mir, daß wir uns nicht aus einem Geist der Versöhnung heraus in einem nicht allzu ernsten Konflikt befinden; wir sind uns in vielem einig. Es sind die Prioritäten, die sich unterscheiden und sicherlich in der Konjunktion mit daraus resultierenden divergierenden Operationen (wenn militärische oder diplomatische Schritte von uns abhingen). Auf dem ukrainischen und internationalen Schauplatz gehen wir jedoch parallel vor, sei es, daß wir einen Kompromiss für den Frieden suchen, sei es, daß vermeiden, daß es eine ungerechte und dauerhafte Bestrafung wird, wie auch jede Kapitulation mit Bedingungen für die Ukraine und für Europa. Für die slawischen Völker des ehemaligen Warschauer Pakts oder der ehemaligen UdSSR ist die russische Kontrolle zutiefst verhaßt. Mancher Mittelweg ist kaum erträglicher (zum Beispiel der ungarische, wo die Wahlen ohnehin unter der Angst vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine stattfanden). Was den Papst betrifft, gibt es leider keinen Text von ihm, der, selbst wenn ich ihm im Wesentlichen zustimme, nicht an einigen Stellen das Gefühl von bereits Gesagtem und Annäherung hervorruft: Wie kann man sagen, daß dieser Krieg von Waffenhändlern vorbereitet wurde? ? Sind wir im afrikanischen oder lateinamerikanischen Dschungel?!

"ZU DEN DRITTEN WEGEN" IM URTEIL ÜBER DEN KRIEG IN DER UKRAINE

von Pietro De Marco

Denen, die die italienische und internationale Diskussion  verfolgen, entgeht nicht ein Hinundher der diskursiven Strategien und Prognosen, die sich hinsichtlich der parteiischen Einstellungen für oder gegen die russische Invasion in die Ukraine als aufgeklärter "dritter Weg" präsentieren. Mir scheint, daß ich die in vier Hauptschemata zusammenfassen kann, die sich gegenseitig unterstützen oder leicht beeinflussen. 

a) Ein erstes auch in der amerikanischen Meinung häufig auftretendes Muster ist die Aussage: Putin hat sowieso schon gewonnen. Das "schon“ war sofort seit den ersten Kriegstagen aufgetaucht. Das "sowieso“ ist eine logische Folge, die als Schutz des " schon“ über die Wochen und angesichts der Beweise für einen russischen Militärfeldzug hinter den Erwartungen der Kommandos und des Präsidenten zurückbleibt. Diese höchst realistisch gemeinte Äußerung, die zuweilen die Prognosen und Hoffnungen eines ukrainischen Sieges ironisiert, dient dazu, "a priori" und negativ über die Frage der politischen Hilfe und Aufrüstung für die Regierung von Kiew zu entscheiden. "A priori", weil wir bis zum Ende eines Krieges die wesentlichen Ergebnisse für das "danach" nicht kennen können und weil es täglich Beweise für das militärische und politische Gewicht des ukrainischen Widerstands gibt.

b) Ein zweites Schema ist das der Erzählung von der Verantwortung des Angegriffenen (in seiner pro-europäischen herrschenden Klasse) und allgemein von seinem schlechten Ruf. Hier bedient sich die skeptisch-feindliche Haltung eines Urteils über die Unhaltbarkeit der beleidigten Partei. Direkter als die erste Strategie nimmt diese zweite russische Argumente als Motivation für die Aggression auf, auch wenn sie ihre Rechtfertigung nicht explizit herleitet. Der Unterschied zum ersten besteht darin, daß das politisch-moralistische Argument dem realistischen vorgezogen wird. Das Ergebnis ist das Fehlen eines geopolitischen Rahmens und Kalküls, zusammen mit einer Option zum Vorteil des Aggressors, da er wesentlich durch die Unwürdigkeit des Angegriffenen legitimiert ist. Das moralistische Argument wird dann durch Vergeltungstöne gegenüber den Vereinigten Staaten und jenen in Europa verstärkt, die zu keiner Zeit die Irakkriege, den "humanitären" Krieg gegen Serbien, den Krieg in Afghanistan und Israel verurteilt haben. Die Art der angeführten Beweise (historisch-politische, biografische, kriegerische Details, Tote gegen Tote, Invasionen gegen Invasionen) erlaubt es dieser idealistischen Strategie, die Vielfalt der Situationen, Gründe, Akteure zu ignorieren und  Konsequenzen für das Heute darauszu ziehen.

c) Ein weiterer „dritter Weg“ ist der, der die ukrainische und europäische geopolitische Besonderheit abwertet und sich auf einen laufenden Prozess des "Resets“ der Weltgesellschaften und des Aufbaus einer neuen Ordnung bezieht. Die ukrainischen und andere Besonderheiten wären nur zufällig, weil sie immer Bestätigungen (jetzt auf dem mehr oder weniger unerwarteten Terrain eines klassischen Krieges) eines postulierten und unbestimmten Willens sind, der abstrakten und allmächtigen westlichen Subjekten zugeschrieben wird, sich alle in der Welt aufzulösen, Pol des Widerstands gegen neue Ordnung; heute ein in Putin identifizierter Pol. Das Argument verlegt den "Reset" von Zeit zu Zeit mal eher auf ökonomische Gründe (mit neomarxianischen Erholungen) mal mehr auf Politiker (Anprangerung der postdemokratischen, ordoliberalen Drift) oder mehr auf kulturanthropologische (Anprangerung des posthumanistischen Projekts). ). Nicht ohne gute Teilgründe, die sich aber in visionären Verallgemeinerungen auflösen oder verschlechtern. 

Das Rußland Putins - vielleicht mir seiner christliche-orthodoxen Komponente würde dann also bewußt oder nur de facto-eine Widerstandsfront gegen die Bestätigung durch den vorgesehenen neuen golbalen Herrscher darstellen, der  bereits auf dem Weg ist (wie die Mächte des dunklen Bösen, thematisiert in der von Tolkien geborenen Fantasy-Literatur; nur daß Mordor in anderen Jahrzehnten die UdSSE war, heute für den sich selbst hassenden Westen die USA oder die die dunklen Weltmächte sind). Wir wären alle schon Knechte, aber die wenigen Knechte, die der Herrschaft nicht zustimmen, vertrauen sich gegen den Weltherrn dieser zügelnde Macht an und kultivieren ein ehrgeiziges euro-russisch-asiatisches Projekt, das die Welt retten kann. Die Modelle der europäischen Links-Rechts-Allianz in der Tonart der antiamerikanischen und antimodernen Revolte sind zahlreich, mit einem Prototyp im Nationalkommunalismus des Belgiers Jean Thiriart (1922-1992).

 d) Ein vierter und diffuser vier Ausweg der "sowohl als auch" Stellungnehmer ist die des Primats von  Verhandlung und Frieden vor und über alle anderen Erwägungen. Auch in diesem Fall reduziert sich die Besonderheit des Krieges in der Ukraine auf eine allgemeine Kategorie, den Krieg, und jede Analyse innerhalb der Logik des stattfindenden Krieges (wer siegt oder wird siegen, wer kämpft legitim, wer begünstigt den Erfolg oder zumindest eine siegreiche Widerstandsfähigkeit) erscheint im Allgemeinen nur Holz für das Feuer des Krieges. Diese Linie ist oft mit einem politischen Urteil verbunden: Europa ist bei der Entscheidung über Frieden und Krieg abwesend, es leidet unter diesem Krieg, muss sich aber entschließen, bei einer entschiedenen Friedensvermittlung der Protagonist zu sein, indem es  Russland und der Ukraine, ja auch den Vereinigten Staaten die Ziele und die Führung des Konflikts entzieht.

Aber einerseits ist dieser Krieg weder ein Kampf zwischen Einzelpersonen oder Banden noch ein von Waffenhändlern herbeigeführter "Putsch". Nur innerhalb der moralistischen Kategorien ist alles gleich, während es bei einer ernsthaften moralischen Kasuistik nicht so wäre. Was bedeutet es, den Krieg in diesem bestimmten Moment zu stoppen? Die Frage ist relevant und primär, nicht nebensächlich oder gar unmoralisch. Diejenigen, denen es nur um den Frieden geht, sehen nicht, daß die Ukraine kein verfügbares Land ist oder werden sollte, das dem ersten Besatzer unterworfen ist.

Andererseits ist die Europäische Union keineswegs abwesend, sondern ein aktiver Teil des Krieges. Sie weiß, daß die Westmächte, insbesondere die USA, auf dem Gewissen haben, daß sie die von der Roten Armee besetzten Gebiete Stalin bis auf den letzten Meter überlassen haben, aus einer Art Optimismus über das Wesen und die Entwicklung der UdSSR. Diese über vierzig Jahre Geschichte werden ab 1989 in gewisser Weise abgelöst. Aber in diesen Tagen zu denken oder uns denken zu lassen, daß Europa, wenn es aktiv und autonom wäre, den Krieg sofort beendet hätte (also um jeden Preis für die Ukraine und für Europa selbst) ist doppelt falsch, weil Europa freiwillig Co-Protagonist der USA ist und sich entschieden hat, auf der Seite der Ukraine zu stehen. Die öffentliche und historische Europäische Union ist die Entscheidung ihrer Regierungen, nicht das private Interesse ihrer Bewohner. Und die Entscheidung der europäischen Regierenden in dieser Angelegenheit  ist mit dem öffentlichen Interesse der Regierten verbunden. 

Im Grunde genommen sehen wir es so: Jeder der "Dritten Wege" wird in einem skeptisch-feindlichen Urteil gegen den ukrainischen Widerstand entschieden, also wohl oder übel zugunsten Putins im Namen eines makroeuropäischen "Status". quo" (Union Europäische Union plus Russland als Gemeinschaft Unabhängiger Staaten), wenn auch in unterschiedlichen Perspektiven erweitert oder idealisiert. Aber genau dieser "Status quo“, den es zu wahren gilt, ohne das postsowjetische Russland zu "destabilisieren“, "herauszufordern“ oder "zu beunruhigen“, ist nun fiktiv. Weder Gleichgewicht, noch Freundschaft, noch Frieden. Seit einiger Zeit wird es von Putins "revanchistischem" Vorgehen erschüttert, während die europäische Untätigkeit, die bei NATO-Initiativen vorherrscht, mehr als die Wahrung des Gleichgewichts ist und die russischen Initiativen bestätigt, um der fortschreitenden Verwestlichung der ehemaligen UdSSR-Staaten entgegenzuwirken. In den vier Argumentationsstilen und ihren Mischungen implizieren sowohl die skeptische Neutralität als auch der tugendhafte Aufruf zur Priorität des Friedens vor allen anderen Erwägungen logischerweise die Verurteilung des ukrainischen Widerstands gegen die Niederlage und seine Kapitulation vor dem Sieger. Das hätten sie sofort angenommen. 

Eine letzte Bemerkung. Um die Irrelevanz des laufenden Krieges zu betonen, wie etwas, das weder unsere Aufmerksamkeit noch wirtschaftliche Opfer und noch weniger unsere ernsthafte militärische Stellungnahme verdient, sagt man, daß es sich um einen "Krieg aus anderen Zeiten" handelt. Natürlich gibt es im Bestehenden nichts, was nicht aus anderen Zeiten stammt. Aktion entsteht immer aus dem Gedächtnis. Aber diese Sichtweise, die leider unter jungen Kommentatoren weit verbreitet ist, zeigt, wie gesättigt unser Geist mit dem aufklärerischen Mythos der "neuen Zeit" ist, die die alte ersetzt und unmittelbar ihrer Existenz oder Legitimität beraubt.

Dieser Mythos (im negativen Sinn des Wortes) ist umso gefährlicher, weil er für die jüngsten Generationen das Virtuelle, das Videospiel, die Matrix und auf jeden Fall Krieg und Frieden im Netz oft als real übernommen werden. Aber ein Erwartungshorizont, der nicht mit einem Erfahrungsraum verbunden ist, ist reine Träumerei. Wenn das Einstecken einer Ohrfeige, wie das sich Einfangen einer Kugel, etwas "aus anderen Zeiten“ und nicht plausibel ist, dann ist es auch die Botschaft der einzigen Realität. Das sollte beachtet werden."
(....)

Quelle: S.Magister, Settimo Cielo, P. De Marco, M. Borghese


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