Allen Greenberg befaßt sich bei firstthings mit der Bauweise von Notre Dame und dem für sie charakteristischen Licht. Hier geht´s zum Original: klicken
"DAS GÖTTLICHE LICHT DER KATHEDRALE NOTRE DAME"
Es war ein sonniger Frühlingstag im Mai 1959, als ich das Kirchenschiff von Notgre Dame de Paris zum allerersten mal betrat. Ich schaute in die anscheinend gewichtlisen Gewölbe hinaus, dann entlang der Säulen zur entfernten Apsis, die schiere Schönheit der Architektur raubte mir den Atem. Hier war formale Schönheit, die aus dem komplexden Symbolismus der Katholischen Kirche erwachsen war. Die Struktur der Gewölbe und Säulen - sowie die riesigen bunten Glasfenster und die Skulpturen - die eine Abbildung des himmlischen Königreiches auf Erden. Naiv wiue ich war - konfrontiert mit dieser überwältigenden Großartigkeit dieses Inneren, fragte ich mich, ob ich gestorebn war und in den Himmel gekommen war.
Ich war 19 Jahre alt, jüdisch, südafrikanischer Architektur-Student, im dritten JAhr eines fünfeinhal-jährigen Studiums. Nichts in meiner Ausbildung hatte mich auf die Begegnung mit einem Raum wie diesem vorbereitet. Ja, ich konnte die Pläne und Kreuzgewölbe der Kathedrale maßstabsgetreu aus dem Gedächtnis zeichnen. Ich waar in der Lage, das Skulpturen-Programm zu beschrieben. das die drei großzügigen Eongansportale umrahmt der Wetsfassade zu beschreiben. Und ich verstand die Rolle der Kathedrale als liber pauperum , ein Buch für die Armen, weil die Skulpturen und bunten Gklasfenster für die großenteils ungebildete Gemeinde biblische Geschichten illustrierten
Dieses glorrieche Innere mußte vom Finger Gottes berührt worden sein. Ich setzte mich im Kirchenschiff auf einen Stuhl - und versuchte mein Gemüt zu beruhigen. Dann bemerkte ich, was ich erlebte- daß Notre Dame- zwischen 1163 und 1345 gebaut- die perfekte Wiedergabe der französischen Gotischen Kathedralen war- charakterisiert durch das intensive Streben nach größerer innerer Höhe, um immer größere dekorative Glas-Fenster einzuoasse. Das Ziel war, das gesamte Innere in Licht zu baden Licht hat immer eine wesentliche Rolle in Kunst und Architektur gespielt und sich auf Bedeutung und Zweck ausgewirkt. Und in der Ära der Gotik war der Zweck des Inneren einer Kathedrale auf Erden das Königreich des Himmels abzubilden. Also wurden innovative architektonische Mittel geschaffen, um dieses "neue Licht" zu ermöglichen, dieses lux nova , das unsichtbar seinen Weg ins Kirchenschiff , die Vierung und den Chor bahnte und die Augen und Gemüter der Zuschauer erleuchtet. Aber das war nicht irgendein Licht. Während es durch die vielen unterschiedlichen bunten Glasfenster passierte, wurde es in ein göttliches Licht verwandelt.
Es war der Französische Staatsmann Abt Suger, einer der frühesten Patrone der Gotischen Architektur, der die Idee der Lux nova hatte. Er beschrieb das Licht als "wunderbar und nicht unterbrochen" - indem die bunten Glasfenster Mauern ersetzten und eine neue, farbenreiche Art schufen, die Crhristliche Geschichte zu erzählen. Später wurde sehr dünnes Maßwerk verwendet, um noch mehr Licht durch die exquisit entworfenen Rosetten-Fenster, diese enormen Öffnungen, die fast ganz mit buntem Gkas ausgefüllt sind, fluten zu lassen.
Aus diesem Grund waren die Gotischen Meistersteinmetze und ihre Kunden, dazu bereit ihr strukturelle System aus dünnen Rippen und Wänden, Steingewölben, Spitzbögen und Strebebögen bis zum Äußersten auszuweiten. Nur nachdem Teile der Chorgewölbes der Saint-Pierre de Beauvais-Kathedrale 1284 einstürzte, haben sie die Grenzhen ihres innovativen strukturellen Systems besser verstanden. Die Bauleute schlossen daraus. daß aus "starken Winden resultierenden Schwingungen das Versagen der Struktur verursachten" und gingen dazu über, beim Wiederaufbau zusätzliche stützende Säulen einzubauen.
Kein Wunder, daß Beauvais dank der luftigen Ambitionen als "Ikarus-Kathedrale" bekannt wurde, die zum Einsturz führten. Bis heute steht ihr erstaunlicher innerer Chor 159 Fuß hoch- als höchster gotischer Chor der Welt; der von Amiens ist mit 139 Fuß 20 Fuß niedriger; Reims ist weitere 35 Fuß niederiger, mit einer Höhe von 124,5 Fuß; das Innere von Chartres ist mit 121 Fuß sogar noch niedriger und Notre Dame de Paris ist mit 105 Fuß sogar noch niedriger. Ely-Cathedral in England ist nur 105 Fuß hoch - zum Teil, weil die englischen Steinmetz-Meister nicht so vom Licht und der Höhe besessen war, wie ihre französischen Brüder. Statt dessen- waren ihre Kathedralen- wenn auch niedriger- länger, mit einem komplexen Gewölbesystem und mehr Drama an den Kreuzgewölben.
Wie es für alle großen Kathedralen wer Welt zutrifft, wurde Notre Dame als ein Werk der Liebe errichtet - gebaut um Jahrhunderte zu überdauern. Die Dachstühle beispielsweise wurden aus schwerem, luftgetrocknetem Eichenholz gefertigt, das tausend Jahre oder länger halten sollte. Es stammte von Bäumen, die im achten oder neunten Jahrhundert gepflanzt wurden.
Vor diesem Hintergrund war es umso schmerzhafter zu sehen, wie das Feuer das Dach verzehrte und im April 2019 den Einsturz der Vierung und des Turms verursachte. Ich war fassungslos, als ich erfuhr, dass die Dachkonstruktion, dieses Wunder gotischer Baukunst, durch keinerlei Feuerlöschmittel geschützt worden war. Das war für das 12. Jahrhundert verständlich, aber bei keiner der Restaurationen in späteren Jahrzehnten wurden Brandschutzstreifen oder Sprinkleranlagen eingebaut.
Glücklicherweise bringt die Zeit auch Weisheit und neue Techniken mit sich. Die aktuelle Restaurierung umfasst Brandschutzwände und eine Sprühsprinkleranlage, wodurch die Kathedrale weitaus widerstandsfähiger wird und angesichts möglicher Gefahren weniger auf menschliches Eingreifen angewiesen ist.
Als ich an jenem Maitag im Jahr 1959 Notre-Dame betrat, erlebte ich als Architekt einen meiner ersten ehrfürchtigen Momente, aber meine Neugier auf die Feinheiten des Bauens eines Bauwerks begann schon, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich lernte die verschiedenen Handwerkskünste auf der Baustelle eines Hauses kennen, das mein Vater Ende der 40er Jahre für unsere Familie baute. Auf dem Heimweg von der Schule ging ich fast jeden Tag zu dieser Baustelle. Ich nervte die Maurer und dann die Gipser. Ich war mit meinem elfjährigen Ich so lästig, dass die Arbeiter irgendwann merkten, dass ich wirklich daran interessiert war, etwas über ihr Handwerk zu lernen. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen sie, dass sie mich nur loswerden konnten, indem sie mir beibrachten, was sie taten.
Sie zeigten mir, wie man eine Schnur zieht, damit die neue Ziegelreihe eben und die Wand absolut senkrecht ist. Sie erklärten mir, wie wichtig es ist, vertikale Fugen zu vermeiden und die Ziegel stattdessen versetzt anzuordnen, um Risse zu vermeiden und die Festigkeit zu erhöhen. Sie brachten mir bei, wie man Mörtel anrührt und wie man Ziegelmuster anlegt – Läuferverband, englischer Verband und mehr – und wie man starke Ecken baut. Am Ende des Bauprozesses hatte ich gelernt, wie man Ziegel legt, eine Wand verputzt und Dachstühle zusammennagelt. Ich konnte Schiefer auf ein Dach legen und einen Schornstein bauen.
Als der Bau abgeschlossen war, veränderte die persönliche Verbindung, die ich zu den Handwerkern und ihrem Handwerk aufgebaut hatte, meine Erfahrung, in diesem Haus zu leben. Ich fühlte eine einzigartige Art von Verbindung und Ehrfurcht vor der Arbeit. Die Tischler, Maurer, Stuckateure, Dachdecker, Klempner – sie waren in mein Bewusstsein eingebrannt und dort blieben sie.
Von da an interessierte ich mich geradezu besessen dafür, wie ein Gebäude zusammengesetzt wird. So unlogisch es auch erscheinen mag, dies liegt normalerweise außerhalb der Sphäre der meisten Architekten, insbesondere heute. Obwohl es in den Zeichnungen eines Architekten viele Lücken gibt, sind die Details in den Werkstattzeichnungen festgelegt und gelöst, und Werkstattzeichnungen fallen fast immer in den Zuständigkeitsbereich des Bauherrn. Diese Aufgabenteilung ergab für mich nie einen Sinn, und ich bin dafür bekannt, mich von Anfang bis Ende in die Details zu vertiefen. Für mich als klassischen Architekten sind diese Details – vom Profil der Zierleisten bis zu den Bodenmustern – das Herz und die Seele der Arbeit.
Notre-Dame und die großen Kathedralen der Welt wurden mit dieser Idee im Hinterkopf geschaffen – dass Handwerk und Struktur untrennbar miteinander verbunden sind. Und dies ist in den Jahrhunderten danach ein Eckpfeiler der klassischen Architektur geblieben. Wie fügt man kontrastierende Materialien zusammen, um ein harmonisches Ganzes zu schaffen? Welche Bedeutung haben Holz, Ziegel und Stein im Vergleich zu Metall und Glas? Werden die Wände aus Gips oder Trockenbau sein? Die Fensterrahmen aus Holz oder Stahl? Die Deko-Elemente, Wandmalereien oder Mosaike?
Ich habe diese Entscheidungen im Laufe meiner Karriere unzählige Male getroffen, und meistens waren meine Entscheidungen richtig. Ich habe Schönheit und Licht, den Charakter des Gebäudes und die Bedürfnisse seiner Bewohner berücksichtigt und meine Aufmerksamkeit sowohl auf das große Ganze als auch auf die kleinsten Details gerichtet.
Das bringt mich zurück zu Notre-Dame de Paris auf der Île de la Cité im 4. Arrondissement. In fast jeder französischen gotischen Kathedrale ritzten die Steinmetze am Ende des Arbeitstages ihre Initialen an der Stelle in die Oberfläche, an der sie für den Tag aufgehört hatten. Sie wussten, wo sie am nächsten Morgen weitermachen mussten, und wir wussten, welcher Steinmetz für welche Wand verantwortlich war – ein Ausdruck großen Stolzes und Besitzanspruchs und eine Hommage an das Handwerk.
Vor dem Brand von 2019 besuchten etwa 12 Millionen Menschen Notre-Dame in einem beliebigen Jahr. Ich hoffe, dass sie mit der gestrigen Wiedereröffnung der großen Kathedrale mit neuen Augen und einer Wertschätzung ihrer göttlichen Botschaft zurückkehren werden. Ich bin nicht mehr jung, aber ich hoffe, eines Tages auch dorthin zurückzukehren. Die Architektur von Notre-Dame hat sich mit einer Kraft in die Fasern meiner Seele verwoben, die ich heute ebenso intensiv spüre wie vor so vielen Jahrzehnten."
Quelle: A Greenberg, firstthings
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