Sonntag, 1. Mai 2022

"Vernichtung" - Houellebecqs Kritik der modernen Gesellschaft der Leere und Sinnlosigkeit

Theodore Dalrymple bespricht -auf für ihn typische teilweise ironische Weise- bei FirstThings das neue Buch "Anéantir" (Vernichtung) von M. Houellebecq, der inzwischen zu einem klarsichtigen Kritiker des Zustands der modernen Konsumgesellschaft- eben nicht nur in Frankreich- avanciert ist, der manchmal prophetische Fähigkeiten zu haben scheint. Das Buch, das einen Blick ins Jahr 2027 wirft, ist in deutscher Sprache erhältlich.
Bemerkenswert Houellebecqs Einstellung zur Euthanasie- ZITAT: 

"Wenn ein Land – eine Gesellschaft, eine Zivilisation – an den Punkt kommt, Euthanasie zu legalisieren“, schrieb er letztes Jahr in Le Figaro," verliert es in meinen Augen jeglichen Respekt. Es wird fortan nicht nur legitim, sondern wünschenswert, es zu zerstören; damit etwas anderes – ein anderes Land, eine andere Gesellschaft, eine andere Zivilisation – eine Chance hat, zu entstehen.“ 

Hier geht´s zum Original:  klicken

                                     "HOUELLEBECQS OMELETTE"

                                                                 ANÉANTIR

So wie Tschechow Langeweile vermittelt, ohne langweilig zu sein, vermittelt Michel Houellebecq Sinnlosigkeit, ohne sinnlos zu sein. Tatsächlich ist sein besonderes Thema die spirituelle, intellektuelle und politische Leere des Lebens in einer modernen Konsumgesellschaft – in diesem Fall Frankreich, aber es könnte jedes westliche Land sein. In seinem Werk kommt man früh auf den Punkt, aber seine Beobachtungen sind so scharf und pointiert, daß seine Variationen des Themas immer lesenswert sind. Houellebecq enthüllt die Absurdität, die oft hinter dem Alltäglichen lauert.

Er ist ein so scharfsinniger Beobachter gesellschaftlicher Trends, daß er manchmal fast prophetisch wirkt: Er sah den Terroranschlag auf Bali und die Ankunft der Gelbwesten in Frankreich voraus. Er ist seit langem der Ansicht, dass die Bedrohung des Westens durch den Islamismus nicht so sehr vom Islamismus selbst mit seinen nichtigen intellektuellen Ressourcen ausgeht, sondern von der Schwäche, den Zweifeln, der Feigheit und der Käuflichkeit der Reaktion der westlichen Gesellschaft, die selbst das Ergebnis der geistigen Leere ist, unter der der Westen leidet und die er so gut beschreibt, ohne – natürlich – eine Lösung anzubieten (es ist nicht die Aufgabe von Romanautoren, konstruktiv zu sein, außer in dem Sinne, daß Kritik die erste Stufe ist, um über das Morgen nachzudenken ).

Sein neuestes Buch, Anéantir, das erst in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 in englischer Sprache veröffentlicht wird, ist bei weitem sein längstes: tatsächlich zu lang, ums seine 734 Seiten über den  Inhalt hinaus zu rechtfertigen. Die erste Auflage betrug 300.000 Exemplare, was für ein seriöses Belletristikwerk beachtlich ist und darauf hindeutet, daß der Autor mittlerweile ein so großes literarisches Phänomen ist, daß er sich kaum noch redigieren lässt. Trotzdem ist er immer lesenswert, und in diesem Buch hat er seine Neigung zu pornografischen Beschreibungen dessen, was eindeutig seine eigenen sexuellen Fantasien sind, etwas kontrolliert, wenn auch nicht vollständig. Vielleicht sinkt sein Testosteronspiegel.


Man liest Houellebecq weder wegen seiner Handlungen noch wegen der Darstellung seiner Charaktere. Seine Protagonisten sind immer dieselben oder ähnliche: Männer im nahenden oder im mittleren Alter, die intelligent und gebildet sind und materialistisch gesehen keine Probleme haben; Sie leiden nicht unter der niedrigen Angst, die entsteht, wenn sie über die Runden kommen müssen. Ihr einziges Problem ist, daß sie nicht wissen, wie sie leben sollen oder wofür sie leben sollen. Sie sind nicht desillusioniert, weil sie sich nie Illusionen gemacht haben. Sie sind ohne Religion, ohne politischen Glauben, sogar ohne Kultur, zumindest in dem Sinne, daß die eher eine Lebenskraft als ein Schmuck oder ein Zeitvertreib ist. Ihre menschlichen, familiären und sexuellen Beziehungen sind oberflächlich und basieren auf den Gefühlen des Augenblicks, ohne Einhaltung oder Kontrolle durch traditionelle Werte. In gewissem Sinne sind sie frei, aber nur so, wie ein Teilchen in der Brownschen Bewegung frei ist. Einsamkeit ist ihr Schicksal, und man kann daraus schließen, daß sie die natürliche Folge der Art von Freiheit ist, die von den Revolutionären im Mai 1968 gefordert wurde. Die Revolutionäre säten Wind und ernteten den Nihilismus; und so zieht sich ein starkes nostalgisches Element durch Houellebecqs Werk, ohne jeden tröstenden Hinweis darauf, daß das Omelett wieder in seine Eier zurückgebracht werden könnte. Niemals zuvor in der Geschichte, schlägt Houellebecq vor, waren wir so wohlhabend und noch nie zuvor so inkompetent, wenn es darum ging, zu wissen, wie man lebt.

Anéantir (Vernichtung) ist ein polyphones Werk, in dem mehrere Themen miteinander verwoben sind. Es spielt fünf Jahre nach seinem Erscheinungsdatum, im Wahljahr 2027. Protagonist Paul ist Beamter und Vertrauter eines erfolgreichen technokratischen Wirtschaftsministers Bruno, der die französische Wirtschaft auf den Weg des Neuaufbaus und Wachstum bringt. Bruno, ein hochbegabter Mann, ist ein möglicher Präsidentschaftskandidat, was Houellebecq Gelegenheit gibt, die autosatirische Natur der modernen Politik zu beschreiben, in der Kommunikation alles und Substanz praktisch nichts ist. Diejenigen, die die Kandidaten in den Kommunikationskünsten coachen, sind allesamt junge Frauen, wobei die Welt sowohl feminisiert als auch maskulinisiert wurde: feminisiert in dem Sinne, daß mehr führende Rollen von Frauen übernommen werden, maskulinisiert in dem Sinne, daß diese Frauen einen typisch männlichen Charakter, eine Reihe von Ambitionen und Einstellungen zur Arbeit angenommen haben. 

Verwoben mit diesem politischen Thema ist eine mysteriöse Geschichte. Eine Flut seltsamer Nachrichten, einschließlich eines digitalisierten Films von Brunos Hinrichtung durch die Guillotine, erscheint weltweit im Internet; Containerschiffe werden gesprengt; Die größte Samenbank der Welt in Dänemark wird niedergebrannt. Die Geheimdienste versuchen, herauszufinden, wer hinter dieser Aktivität steckt, scheitern aber und am Ende des Buches wissen wir es immer noch nicht. Das ist unbefriedigend: es ist, als würde man einen Krimi lesen, ohne jemals einen Krimi zu entdecken. Es gibt dem Autor die Erlaubnis, sich frei in seiner Vorstellungskraft zu bewegen, ohne die disziplinierende Notwendigkeit nach Plausibilität.

Das Privatleben der Charaktere nimmt den größten Teil des Buches ein. Sie sind, wie in Houellebecq zu erwarten, zumindest unbefriedigend. Zum Beispiel ist Pauls schwacher und ineffektiver jüngerer Bruder Aurélien, dessen einziges Interesse am Leben die Restaurierung mittelalterlicher Wandteppiche ist, mit einer niederträchtigen Journalistin von bösartigem Charakter verheiratet, die durch künstliche Befruchtung ein Kind hat, obwohl Aurélien selbst nicht unfruchtbar ist. Sie wählt einen schwarzen Samenspender, um die Demütigung ihres Mannes zu maximieren, öffentlich zu demonstrieren, daß es nicht sein Sohn ist, und die gleichzeitig liberale Tugend für sich zu beansprucht, weil ihr Sohn der lebende Beweis dafür ist, daß sie keine rassistischen Vorurteile hat. Houellebecq deutet hier an, daß das, was in der modernen Welt als politische Tugend gilt, oft mit einem äußerst unangenehmen persönlichen Charakter kombiniert oder sogar dessen Produkt ist.

Ein weiteres Thema des Buches ist der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Alten. Pauls Vater, ein Offizier des hohen französischen Geheimdienstes, erleidet einen verheerenden Schlaganfall und wird in eine Spezialeinheit für Wachkoma eingeliefert, doch aus bösartigen Verwaltungsgründen wird diese menschenwürdig geführte Einheit bald darauf geschlossen und Pauls Vater in einem Heim verlegt, das faktisch eine Einrichtung zur Euthanasie durch Vernachlässigung ist.

Nach französischem Recht hat der behandelnde Arzt im Falle eines Patienten, der nicht kommunizieren kann, das Recht und die Pflicht, zu entscheiden, was im besten Interesse des Patienten ist. Also kontaktieren Paul und der Rest seiner Familie eine möglicherweisr rechtsextreme Gruppe, die alte Menschen aus den Fängen der Institutionen rettet, die sie de facto töten wird. Ist dies die nächste soziale Bewegung, die entsteht? Die Intrigen und ihre Folgen, die bürokratische Gleichgültigkeit, Grausamkeit und Inkompetenz des modernen Staates werden sehr plausibel dargestellt. Houellebecq war übrigens ein konsequenter und erbitterter Gegner der Bestrebungen, die Euthanasie in Frankreich zu legalisieren, was ihn wieder einmal in Konflikt mit der bien Pensant-Intelligenz ("Gutmenschen") seines Landes bringt. "Wenn ein Land – eine Gesellschaft, eine Zivilisation – an den Punkt kommt, Euthanasie zu legalisieren“, schrieb er letztes Jahr in Le Figaro, "verliert es in meinen Augen jeglichen Respekt. Es wird fortan nicht nur legitim, sondern wünschenswert, es zu zerstören; damit etwas anderes – ein anderes Land, eine andere Gesellschaft, eine andere Zivilisation – eine Chance hat, zu entstehen.“

Anéantir impliziert, daß sowohl Individuen als auch Zivilisationen sich selbst zerstören. Moderne Menschen haben in Houellebecqs Geschichten einen Willen zur Selbstzerstörung: sie suchen das Elend, auch wenn es keinen äußeren oder "objektiven“ Grund dafür gibt. Gegen Ende des Buches leidet der fünfzigjährige Paul an Mundkrebs, der ihn bald töten wird – daher der Titel des Buches. Inzwischen haben er und seine Frau nach Jahren der Entfremdung ihre Liebe neu entfacht. Sie leben weiterhin zusammen, allerdings ohne wirklichen Kontakt zwischen ihnen. Ihre Entfremdung scheint das Ergebnis einer Selbstzerstörung gewesen zu sein, denn keiner von ihnen ändert sich wesentlich, als sie ihre Liebe füreinander wiederentdecken.

Liebe erlöst das Leben und gibt ihm einen Sinn, können wir diesem Buch entnehmen. Aber leider ist Liebe in der heutigen Welt besonders schwer zu finden, wo Geld, Macht, Erfolg und die Freiheit der Brownschen Bewegung viel mehr geschätzt werden. Wir schätzen grenzenlose Möglichkeiten, während Liebe Engagement und Selbstbeschränkung erfordert.

Für mich liegt das Vergnügen beim Lesen von Houellebecq jedoch in seinen laserscharfen Beobachtungen. Hier ist zum Beispiel seine Beschreibung eines riesigen modernen Bürokomplexes für den Geheimdienst aus der Sicht einer der Figuren:

"Er hatte nie einen besonderen ästhetischen Wert in diesem unstrukturierten Nebeneinander von gigantischen Parallel  aus Glas und Stahl gefunden. . . . Jedenfalls war das Ziel der Designer nicht Schönheit, nicht einmal Zustimmung, sondern die Zurschaustellung einer gewissen technischen Kompetenz – als ginge es vor allem darum, sie zukünftigen Außerirdischen zu demonstrieren."

Hat es jemals eine bessere Zusammenfassung der Bemühungen von Architekten wie Frank Gehry, Renzo Piano, Jean Nouvel oder Zaha Hadid gegeben? Sie bauen Kniebeugen vor den Marsianern.

Immer wieder macht Houellebecq Beobachtungen, die so scharf sind wie die Maximen von La Rochefoucauld. Auch hier beschreibt er, wie jedes Gespräch in Frankreich entweder wieder aufgenommen werden kann, wenn es ins Stocken gerät, oder von seinem vorherigen Kurs abgelenkt wird:#

". . . Es stimmt, daß Zemmour immer funktioniert, es genügt, seinen Namen zu nennen, und das Gespräch beginnt, auf etikettierten und schön vorhersehbaren Pfaden zu schnurren, ein bisschen wie das von Georges Marchais [dem ehemaligen Führer der Kommunistischen Partei] zu seiner Zeit, wo  jeder seine sozialen Merkmale, seine natürliche Position findet, aus der er stille Befriedigung zieht."

Ungeachtet literarischer Fehler (von denen schließlich kein Autor völlig frei ist) gibt es keinen mir bekannten zeitgenössischen Schriftsteller, der die kulturelle, psychologische und spirituelle missliche Lage des Westens in der Gegenwart besser analysiert als Houellebecq. Seine Palette ist vielleicht begrenzt, aber seine Leinwand ist groß."

Quelle: T.Dalrymple, FirstThings, M.Houellbecq



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