Donnerstag, 7. März 2024

Warum das Mittelalter nicht finster war...

Mit der korrekten zeitlichen Einordnung des Mittelalter,  wenn es darum geht über das "finstere Mittelalter" -natürlich im Gegensatz zu unser leuchtend hellen Zeit- zu urteilen -ist das immer so eine  Sache. Da werden am Anfang schon mal einige Jahrhundert weggelassen, die dafür am Ende wieder drangehängt werden, wer wird denn da so pingelig sein...und Pisa (nicht der Turm) läßt freundlich grüßen. Anläßlich des Skandals um das Saltini-Gemälde in Carpi gibt Stefano Chiappalone diesbezüglich bei La Nuova Bussola Quotidiana eine hilfreiche Nachhilfestunde. 

Hier geht´s zum Original:  klicken

DAS ZEITALTER DER KATHEDRALEN

SALTINI FÜRCHTET DAS MITTELALTER.ABER ES IST  DIE KUNST, DIE DAS KLISCHÉE ENTLARVT. 

Der Künstler im Zentrum der Kontroverse um die Ausstellung im Diözean-Museum in Carpi fürchtet das sogenannte "dunkle Zeitalter" So dunkel, daß es Zeugnis anlegt über ein lebhafte Vorstellungskraft, die in der Lage war Vielfalt und Wahrheit zu kombinieren.

Am Ende antwortet Andrea Saltini, der Künstler im Zentrum der Kontroverse um die im Diözesan-Museum von Carpi ausgestellten kontroversen Werke auch auf die Kritiken, indem er das magische Wort ausspricht, das unweigerlich jedes mal auftaucht, wenn man nach einem negativen Bezug sucht:  das Mittelalter!   Im Interview in der  Gazzetta di Modena, sagte er: 

"Wir sind zurück im Mittelalter. Denken Sie nur an die  Künstler, die sokritisiert wurden, wie Caravaggio, dessen Werke wir an sakralen Orten finden."  Übersehen wir die Tatsache, daß Caravaggios Beispiel nicht das passendste ist, nachdem er 1571 geboren wurde, als das Mittelalter schon eine Weile zuende war. Um das weitverbeitete Klischée zu demontieren, würde es genügen, Historikerwie Régine Pernoud zu lesen ("Es ist die einzige unterenwickelte Zeit, die uns die Kathedralen hinterlassen haben") oder Marco Tangheroni ("Kommt her, auf den Platz der Wunder in Pisa, zwischen der Kathedrale,  Baptisterium und dem Schiefen Turm und den Friedhof und sagen Sie mir, daß das "dunkel" ist). Wenn es heute doch nur solche "Dunkelheit" gäbe! ) Aber zumindest, wenn es um Kunst geht, bringen Sie nicht das Mittelalter aus der Reihe der Beispiele.

Gerade die mittelalterliche Kunst vermittelt uns ein Bild von diesem geschmähten Jahrtausend, das alles andere als statisch und bedrückend ist. Noch heute sind wir fasziniert von der unerschöpflichen und ungeahnten Fantasie des mittelalterlichen Menschen, die die Miniaturen eines Kodex oder die unzähligen Symbole belebt, die wie Weinreben an den Fassaden von Kathedralen wachsen. Ein einziger beleuchteter Anfangsbuchstabe wimmelt von übernatürlichem und sogar natürlichem Leben: Ob phytomorph, zoomorph, historisiert, das grafische Zeichen ist mit pflanzlichen und tierischen Elementen, biblischen und historischen Charakteren angereichert und verwandelt die Seite in einen Mikrokosmos. Noch überraschender sind die Marginalien, die so genannt werden, weil sie auf die Ränder eines Kodex gemalt sind, wo wir sogar auf winzige Kaninchen in Rüstungen oder von Schnecken geführte Schlachten und andere Kuriositäten stoßen können (die Wissenschaftler mit einem bestimmten französischen Begriff definieren: drôlerie), die von einem Surrealismus ante litteram zeugen. Nicht schlecht für ein dunkles Zeitalter.


Was streng religiöse Themen angeht, erweist sich keine andere Epoche als fruchtbarer und einfallsreicher, selbst innerhalb des liturgischen Textes: Ein beredtes Beispiel dafür ist das Initiale -T des Te igitur (die Worte, mit denen der römische Kanon beginnt), das die Form allmählich erhöht das Kreuz und kam dann, um das Kruzifix zu beherbergen. Wenn der Priester sich also auf die Weihe vorbereitet, sieht er im Text des Messbuchs das Geheimnis dargestellt, das sich in seinen Händen vollziehen wird. Auch beim Kruzifix gibt es mehrere Variationen: Haben Sie jemals einen Toten mit offenen Augen gesehen, als wäre er lebendig? Hier ist der Christus triumphans, also der gekreuzigte Christus, der theoretisch bereits tot und dennoch lebendig ist, der in einem Bild das Kreuz und den Triumph der Auferstehung verdichtet. Der Kreuzbaum ist auch der Baum des Lebens im Apsismosaik von San Clemente in Rom oder im Fresko von Taddeo Gaddi in Santa Croce in Florenz, wo er auf das Letzte Abendmahl aufgepfropft ist. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen der marianischen Ikonographie: die Madonna in Majestät, die Madonna der Demut, die Madonna der Barmherzigkeit (und letztere mit der weiteren Variante der Madonna mit den Pfeilen, deren Mantel zum Schutzschild gegen göttliche Strafen wird, dargestellt durch Pfeile).

Die vielleicht überraschendste Ikonographie ist die der Madonna del Latte, der Jungfrau, die das Jesuskind stillt. Das Ziel besteht nicht darin, die entblößte Brust der Madonna darzustellen, nur um zu provozieren, sondern vielmehr darauf hinzuweisen, daß der Sohn Gottes tatsächlich gestillt wird Hinweis auf seine wahre Menschlichkeit und damit auf die ebenso reale göttliche Mutterschaft Mariens. Dieses Thema hat (mindestens) zwei Varianten: die Lactatio des Heiligen Bernhard von Clairvaux, der einen Schwall Milch aus der Brust der Jungfrau (aber aus sicherer Entfernung) erhält, ein Symbol der auf wundersame Weise empfangenen göttlichen Wissenschaft. Und die doppelte Fürbitte von Lorenzo Monaco (wir befinden uns jetzt am Anfang des 15. Jahrhunderts) auf dem Maria Fürbitte für eine Gruppe von Menschen einlegt, indem sie ihrem Sohn die Brust zeigt, die ihn gestillt hat („Dolciximo figluolo pellacte che io ti die abbi mi[sericord]a di chostoro“), und diese wiederum zeigt dem Vater die Wunden, den Preis der Erlösung.

Auch im Herbst des Mittelalters blüht die Fantasie. Wir sehen, wie Christus eine Leiter erklimmt und sich auf das Kreuz stützt, was die freiwillige Annahme seines Opfers anzeigt. Oder der stehende Christus am Sonntag mit den Zeichen der Passion, umgeben von verschiedenen Arbeitsgeräten, die seine Leiden erneuern, wenn sie sonntags verwendet werden und damit gegen die festliche Vorschrift verstoßen. Natürlich erfundene Bilder, aber nicht „"in der Fantasie des Kochs“, die diese oder jene Wahrheit darstellen, die im Evangeliumsgeschehen und im Depositum fidei enthalten ist. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, aber eine letzte Erwähnung verdient das "christliche Bestiarium“, das auf der Grundlage biblischer Referenzen und der verschiedenen Versionen des Physiologus (ein Bestseller der damaligen Zeit, der aus dem zweiten bis dritten Jahrhundert stammt) in Tieren, ob real oder imaginär, ebenso viele Bilder ewiger Realitäten sieht: das Lamm, den Pelikan, Symbole Christi, aber auch den Drachen und die Schlange, Symbole des Bösen.

Eine solche Vitalität, die für eine starre und geschlossene Gesellschaft unerklärlich ist (wie die Vulgata es nennen würde), zeugt von einer galoppierenden Fantasie, weit davon entfernt willkürlich zu sein. Diesen Jahrhunderten verdanken wir ein wunderbares Kaleidoskop, das in der Lage ist, das Sichtbare und das Unsichtbare zu vereinen, so daß bestimmte moderne Werke mit einem religiösen Thema (oder vielmehr dem Vorwand) im Vergleich dazu verblassen und allzu sehr in das bloß Zeitgenössische verfallen, dessen Eifer es ist, Originalität als Selbstzweck zu erlangen, und das sich so oft wiederholt, daß es sich in eine neue Form von Konformismus auflöst. Saltinis Ausstellung und Interview haben nicht zuletzt einen Vorzug: Sie lassen uns die mittelalterliche Kunst vermissen und wiederentdecken, die Vielfalt und Wahrheit zu verbinden wusste."

Quelle: S. Chiappalone, LNBQ

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